Vorwort Tour de Britain

Oft gewinnt die Exotik, bleibt das Gewöhnliche und Vertraute auf der Strecke. Über viele Jahre wollte ich Großbritannien der Länge nach mit dem Fahrrad durchqueren. Den Status eines „End to End“-Finishers erwerben und durch ein Land kurbeln, das in meinem Leben eine wichtige Rolle gespielt und mich vielfältig geprägt hat. Doch das gefürchtet unbeständige Wetter, die von vielen Besuchen auf „der Insel“ so vertraute Landschaft und die vergleichsweise wenig exotischen Umstände hielten mich immer wieder davon ab. Stattdessen kurbelte ich durch Afrika und Südamerika, nahm teil an Tagesklassikern wie Paris–Roubaix (okay, die Version für Jedermänner), bewies mich auf einem 300-Kilometer-Rennen von Duisburg nach Bensersiel oder raste (bzw. schlich) an einem Tag alle drei Auffahrten des „Géant de Provence“ hoch, um Mitglied im „Klub der Verrückten des Mount Ventoux“ zu werden.

 

Ende 2016 fiel mir auf der Suche nach Literatur für ein neues Radabenteuer „Jenseits der Komfortzone“ der Reiseführer „The End to End Cycle Route – Land‘s End to John O‘Groats“ in die Hände. Ich nahm das kleine Büchlein mit in das Café des Buchladens, blätterte ein wenig lustlos herum und purzelte schließlich mitten hinein. Als ich den Laden verließ, wusste ich: jetzt ist es so weit!

 

Eine Radtour, ganz anders als die großen Abenteuer in Südamerika und Afrika. Zunächst unternahm ich sie allein und nicht in der Gruppe. Dann transportierte ich mein Gepäck selbst am Rad, wollte möglichst autonom unterwegs sein. Und schließlich schenkte mir die „Tour de Britain“ die wunderbare Gelegenheit, vertraute Orte erneut aufzusuchen und lange nicht gesehene Freunde wieder zu treffen. Deshalb komplettierte auch eine große Schleife durch Wales im Anschluss an den Klassiker „End to End“ meine Tour, kurbelte ich über insgesamt 2.000 Kilometer durch das Vereinigte Königreich. Bei unfassbar brillantem Wetter übrigens.

 

Das Fahrrad ist ein perfektes Reisemobil. Okay, das Wetter mag mitunter rau sein, und anstrengend wird es hin und wieder auch. Doch das alles verblasst vor dem Gefühl, am Abend auf die Landkarte zu schauen und zu bestaunen, wie viel Distanz man überwunden hat. Und dann ist da noch diese einzigartige Freiheit, die das Radreisen schenkt. Jederzeit stoppen zu können, um ein Foto zu schießen, mit Menschen zu reden oder einfach Land und Leute auf sich wirken zu lassen. Es sind diese Begegnungen, die eine Reise auf dem Fahrrad so wertvoll machen. Zumal es auch noch so umweltschonend ist wie kein anderes Verkehrsmittel abseits des Zu-Fuß-Gehens.

 

Großbritannien ist ein Land, das überraschend vielfältig daherkommt. Im Großraum Manchester zitterte ich im rüden Verkehr um mein Leben. In Nordschottland ertrank ich in der Einsamkeit, in Cornwall zermürbten mich Anstiege in absurden Steigungsgraden, wie ich sie nie zuvor überwunden habe. Wie viele Schafe ich zwischen Land‘s End und John O‘Groats gesehen habe, vermag ich noch nicht einmal zu schätzen – es müssen zehntausende gewesen sein.

 

Dieses Buch handelt aber nicht nur vom Radfahren auf der falschen Straßenseite und von erschreckend großen Kreisverkehren, sondern auch von meiner langen Liebe zu Großbritannien und ein bisschen vom Leben und all den versteckten Perlen, die man darin so finden kann. Manchmal sogar in einem selbst, denn wer nicht pauschalurlaubig und „all-inclusive“ reist, unternimmt immer auch einen kleinen Ausflug ins innere Abenteuerland. Muss allerlei Prüfungen bestehen, macht Grenzerfahrungen. Selbst wenn es mitten durch die Komfortzone Großbritannien geht und nicht „Jenseits der Komfortzone“ wie in Afrika oder Südamerika.

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Ausgabe 26

 

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4. Etappe, Glastonbury to Monmouth, 107 Kilometer

Begegnung mit einem Mörder

Um kurz nach acht breche ich auf in den vierten Tag. Langsam stellt sich eine Packroutine ein. Das Bauhofambiente auf dem Campingplatz hilft, meine Sachen schnell und effektiv zu verstauen. Alles hat inzwischen seinen Platz, auch wenn die Packtaschen jeden Morgen irgendwie anders aussehen. Der Himmel verspricht einen schönen Frühsommertag, und die aufgehende Sonne spendet erste warme Strahlen.

 

Bevor ich die Etappe starte, drehe ich noch eine letzte Runde durch das Ortszentrum. So schnell werde ich nicht zurückkommen, dafür war die „Heimkehr“ zu ernüchternd. An eine Hauswand ist in knallbunten Farben „Too much of a good thing can be wonderful“ gepinselt. Ich schnappe mir meine Vergangenheit und breche auf in die Zukunft. Die heißt Monmouth, liegt in Wales und fordert 107 Tageskilometer von mir ab.

 

Über schmale Nebenstrecken kurble ich durch die sattgrüne Somerset-Landschaft. Überall sind Relikte der keltischen Vergangenheit und mystischen Verklärung zu sehen. Steinerne Wegweiser mit esoterischen Symbolen, jahrhundertelang von der Natur geformt, stehen für eine Zeitlosigkeit, wie sie nur in England zu finden ist. Mittelalter und Zukunft verschmelzen hier zur Gegenwart. Und der Glastonbury Tor spielt die Hauptrolle. Als wolle er auf seine Rolle in „Die Nebel von Avalon“ hinweisen, schwebt er förmlich über der flachen Ebene. Gutmütig wiederkäuende Kühe schauen mir hinterher, als ich über sanfte Wellen durchs Hinterland gleite. Im wuseligen Wells wird es kurz mal hektisch, ehe ich auf die „Old Bristol Road“ abbiege und wieder mit mir alleine bin. Und noch einmal die brutale Topografie Südwestenglands spüre. Denn ich muss über die Mendip Hills, einen schroffen Höhenzug aus verkarstetem Kalkstein und mit reicher Geschichte. Für die Kelten war ein „Mened“ ein Hochmoor, und auf den Mendip Hills finden sich bis heute Relikte aus der Steinzeit, der Bronzezeit und der Eisenzeit. Vor allem Wookey Hole, eine bizarre Höhle, sowie die Cheddar Gorge, ein düsterer, schmaler Taleinschnitt, locken Touristen an. Die Steinbrüche der Mendip Hills lieferten unterdessen über Jahrhunderte das Material für die Wohnhäuser und die berühmten Trockensteinmauern Somersets.

 

Die schmale Straße folgt jeder Laune der Topografie. Ein weiterer Ausflug ins mittelalterliche England, als sich noch Postkutschen durch die Landschaft schlugen. Die heutigen Postkutschen sind Kurierfahrer. In Wahnsinnstempo rasen sie an mir vorbei. Während ich mit dem ewig langen 18-Prozent-Anstieg kämpfe, passiert es. Von links schlüpft direkt vor mir ein Pfau aus dem Gebüsch und rennt auf die gegenüberliegende Straßenseite. Von vorne rast ein Kurierfahrer heran. Er sieht den Pfau, doch er bremst nicht. Ein dumpfer Knall, dann liegt das Tier tot auf dem Asphalt, während der Täter mit seinen Paketen weiterrast zu den ungeduldig auf ihre neuen iPhones oder sonst was Wartenden. Faustschwingend brülle ich ihm hinterher. Der Pfau war quasi auf der anderen Seite, der Fahrer hätte nur kurz auf die Bremse tippen müssen. Ungläubig starre ich auf die Leiche, die eben noch Leben voller Zukunft war. Weltschmerz überkommt mich. Und Wut auf unsere Art zu leben. Rücksichtslos, gedankenlos, selbstsüchtig.

 

Es ist zehn Jahre her, dass ich selbst auf der Überholspur war und ins Schleudern geriet. Von dauerhafter Selbstausbeutung ausgebrannt. Als habe jemand den Stecker gezogen und die Energieversorgung gekappt. Dieser jemand war mein Körper, oder meinetwegen auch meine Seele. Eine schockierende Erfahrung. Tagelang verbrachte ich reglos im Bett, fühlte mich getrennt von meinem Körper, der tonnenschwer und gelähmt schien. Kontur- und bodenlose Erschöpfung grub mich ein. Irgendwann kam die Erkenntnis, dass ich an einer Lebensweiche stand. Der vertraute Weg war weggebrochen, Umleitungen oder neue Wege waren noch nicht zu erkennen. Als ich wieder aufstehen konnte, war nichts mehr, wie es war. Das Feuer, das mich an den Abgrund geführt hatte, erloschen. Stattdessen zeigten sich andere, zartere Lichter. Warme, entspannte Wegweiser, die von der Überholspur herunter und auf entschleunigte Nebenstraßen führten.

 

Es war das Fahrrad, mit dem ich sie im realen Leben erkundete. 2011 zerstörte die Durchradlung Afrikas auch die letzten Reste der Überholspur. Im Hinterland von Äthiopien oder Kenia zu erleben, wie die Menschen und vor allem die Kinder in – für unser Wohlstandsempfinden – unvorstellbaren Lebensumständen fröhlich lachten und ihr Dasein genossen, war wie eine Wurmkur für den giftigen Bazillus der Leistungsgesellschaftskrankheit, an der ich gelitten hatte. Seither läuft mein Leben langsamer, achtsamer. Vor allem sind die Grenzen spürbar, löst sofort Alarm aus, wenn ich ihnen zu nahe komme. Das Leben ist zu wertvoll, um es auf der Überholspur zu verbringen.

 

Nun stehe ich am Straßenrand und kämpfe mit den Tränen. Sie gelten dem auf dem Altar der Wohlstandsgesellschaft geopferten Pfau, sie gelten aber auch diesem unerbittlichen Tempo, das uns als Gesellschaft verhärtet und entzweit. Ihm zu entgehen, ist schwer. Selbst hier im tiefsten Hinterland. Gedankenschwer fahre ich weiter. Über viele Kilometer sammelt die Straße weitere Höhenmeter, ehe sie den Kamm der Hügelkette erreicht. Auf der schnurgeraden Straße zurück zur Ebene schnellt mein Bordcomputer auf 60 km/h aus, und ein paar Wimpernschläge später stehe ich vor dem Chew Valley Lake, dem wichtigsten Wasserreservoir von Bristol. Die optische Idylle wird nur gestört durch die dichtbefahrene Landstraße, auf der ich mit dem rücksichtslos rasenden Verkehr kämpfe. Es gibt zwar einen Radweg, doch der ist übersät mit Scherben und Müll.

 

Ich kurble am Flughafen von Bristol vorbei, an dem ich vor sechs Tagen ankam. In Long Ashton vor den Toren der Stadt stoppe ich an einem kleinen Supermarkt. Inzwischen brennt die Sonne vom Himmel und treibt mir den Schweiß aus den Poren. Das Boulevardblatt „The Sun“ spricht von einer bevorstehenden Hitzewelle mit Temperaturen über 30 Grad. Unter warmer Sonne zu radeln, fällt leichter als unter grauem Himmel und bei kühler Witterung. Als hätte ich Sonnenkollektoren auf dem Rücken, kurbelt der Körper dann lustvoll wie von selbst. Schlechtes Wetter vermiest jede Radtour.

 

Bristol ist eine der am meisten unterschätzten Städte Europas. Keine Schönheit, aber voller Charakter. Die alte Hafenstadt litt schwer unter dem Ende des industriellen Zeitalters. Und stand wieder auf, um sich ein neues, ein modernes Outfit zu verschaffen. Dafür stehen heute unter anderem Wallace & Gromit, die Knetfiguren mit dem Käsespleen, deren Filme auch in Deutschland Erfolg hatten. Bristol gilt als innovativ und mutig, mit einer viel gepriesenen Universität, einer in ganz Großbritannien berühmten Musikszene und einer Lebensqualität, die erstaunlich hoch ist.

 

Über ein altes Gatehouse erreiche ich Ashton Court. Das riesige Parkgelände liegt auf einem Hügel hoch über den Dächern der Stadt. Spaziergänger flanieren über die Schotterwege, Kinder spielen Fußball, verliebte Pärchen liegen sich kichernd in den Armen. Wie gefiltert im Hintergrund der Lärm der Großstadt – mit 560.000 Einwohnern ist Bristol Englands viertgrößte Stadt. Eine steile Abfahrt bringt mich hinunter zum Avon, dem Fluss, der Bristol prägte und prägt. Über ein wirres System von Fußgängerbrücken, schmalen Pfaden und Radwegen lande ich an der Uferstraße und unterquere die Clifton Suspension Bridge. Sie ist Bristols Ikone. 1864 nach über 30 Jahren Bauzeit eingeweiht, verbindet sie in 76 Metern Höhe das Stadtzentrum mit der Westküste. Inzwischen führt der meiste Verkehr zwar über einen Neubau weiter südlich, als Symbol ist die Suspension Bridge aber immer noch der Stolz Bristols. Außerdem hat sich der Stadtname aus dem altenglischen „Brycgstow“ entwickelt – Ort an der Brücke. Wobei das wiederum natürlich einer viel älteren Brücke zu verdanken war.

 

Bristol ist seit langem meine „Heimat“ in England. Über den Fußball lernte ich es kennen und lieben. Die raue und zugleich ehrliche Stadt macht kein Bohei um sich. Sie ist ein Ort, an dem man gut leben kann. Mit charaktervollen Ecken wie dem von der Universität geprägten Clifton oder Montpelier, ein Viertel auf halben Weg zwischen Innenstadt und dem Memorial Stadium meiner Bristol Rovers, das voller uriger Kneipen und Restaurants ist. Bei den Touristen steht Bristol dennoch im Schatten von Bath, das mit musealer Innenstadt und römischen Bädern punkten kann. Doch wo in Bath das Leben nur ausgestellt wird, ist es in Bristol direkt erlebbar. Zum Beispiel durch den lokalen Dialekt, der „Brizzle“ oder „Bristle“ genannt wird und selbst vielen Briten Schwierigkeiten macht. Prinzipiell wird jeder Vokalendung ein „l“ hinzugefügt, was zu sehr lustigen Aussagen führt.

 

Nahe der Stadtgrenze stoppe ich am „The Creek“-Stadion des Bristol Manor Farm FC, dem dritten Fußballklub der Stadt nach den Rovers und Erzrivale City. Bristol ist eine fußballverrückte Stadt, die seit Ewigkeiten ihren Ambitionen hinterherhechelt. Jahrelang waren sowohl City als auch Rovers bestenfalls drittklassig. Während bei City mit Steve Lansdown einer der reichsten Männer Englands sein Geld versenkt, ohne den Sehnsuchtsort Premier League zu erreichen, gelten die Rovers als hemdsärmliger Arbeiterklub, dessen ewiges Schicksal es ist, von der Hand in den Mund zu leben. Es war dieses Underdog- und Rebellenimage, das mich einst zu dem Klub zog.

 

Übergangslos geht es von Bristol nach Avonmouth dessen wuseligem Seehafen. Avonmouth ist eine Beton- und Asphaltwüste mit ein paar verloren wirkenden historischen Häusern, durch die sich stinkende und lärmende Blechlawinen quälen. Lebensqualität ist hier nicht zu erwerben, und als Radfahrer werde ich vor allem als Hindernis wahrgenommen. Wo immer es geht, weiche ich auf den Fußweg aus, um den schnaufenden 40-Tonnern zu entgehen. Ein Spießrutenlauf, der kein Ende zu nehmen scheint. Avonmouth schießt auf der Liste der schrecklichsten Orte, an denen ich jemals geradelt bin, aus dem Stand auf eine Spitzenposition.

 

Kurz vor der Severn Bridge, die mich nach Wales bringen wird, treffe ich Betty und Denise. Zwei fröhliche Mittfünfzigerinnen, die ihre vollgepackten Räder ebenfalls Richtung Brücke steuern. Sie wollen zur walisischen Südküste und stöhnen über den Verkehr. „Die Laster nehmen echt keine Rücksicht“, schimpft Betty, „die sind manchmal nur Zentimeter an uns vorbeigerast.“ Die beiden stammen aus Bristol und machen oft gemeinsame Unternehmungen. „Fahrradfahren ist für uns Freiheit. Wir fahren einfach los, haben zwar grobe Ziele, kümmern uns aber nicht darum, zu einer bestimmten Zeit irgendwo anzukommen. Wenn wir keine Lust mehr haben, suchen wir uns ein Bed and Breakfast und bleiben einfach da.“ Beide arbeiten auf einer Kinderkrebsstation. „Wenn man das mit ansehen muss, was da für Tragödien passieren, braucht man einen Ausgleich. Radfahren ist wichtig für meine Seele“, sagt Denise. Gemeinsam finden wir den Radweg über die Brücke, dann trennen wir uns. „Fahr los, du bist eh schneller, wir bleiben wahrscheinlich ohnehin gleich in Chepstow auf der anderen Seite.“

 

Inzwischen ist es halb drei, und bis zu meinem Tagesziel in Monmouth sind es noch 40 Kilometer. Die anstrengende Bristol-Durchquerung hat Zeit gekostet. Die Severn-Bridge wurde 1966 nach fünf Jahren Bauzeit als erste Direktverbindung zwischen Wales und England eingeweiht. 1.597 Meter lang, mit einem abgetrennten Fahrradstreifen auf jeder Fahrbahnseite. Jeder Laster lässt das Bauwerk erzittern, und es ist ein eigentümliches Gefühl, diese Schwingungen auf dem Rad aufzunehmen. Nach der Hälfte der Brücke sehe ich einen Radfahrer, der ein Selfie macht. Als ich näherkomme, erkenne ich ihn. Wir sind uns gestern kurz vor Street schon mal begegnet und hatten uns im Vorbeifahren gegrüßt. Ich stoppe und übernehme das mit dem Selfie. Im Gegenzug bekomme ich ein Foto von mir. Joe kommt aus London und ist ebenfalls auf dem Weg nach John O’Groats. Ich wundere mich über sein überschaubares Gepäck, und er erzählt, dass seine Frau im Auto mitfährt und alles transportiert.

 

Glücklicher Joe. Er ist sich da nicht so sicher und beneidet eher mich. „Du bist völlig frei, das wäre ich auch gerne. Meine Frau langweilt sich furchtbar, und wenn wir abends essen gehen, will sie meine Geschichten jetzt schon nicht mehr hören“, stöhnt er. Er klingt frustriert und lässt sich rasch zurückfallen, als wir gemeinsam weiterkurbeln. Ein Gefühl sagt mir, ihn mit sich alleine zu lassen. In Chepstow sehe ich ihn später noch einmal, als ich gerade vor einer Bäckerei sitze und er grüßend vorbeirast.

 

Alleine reisen ist eine Herausforderung, aber auch ein Geschenk. Ich kann jederzeit selbst entscheiden, wohin mich mein Weg führt und wo ich mein Zelt aufbaue. Seit ich Anfang der 1980er Jahre mit einem Interrail-Ticket durch Europa reiste, liebe ich das Alleinreisen. Ich bin dann viel kontaktfreudiger und offener für die Welt um mich herum. „End to End“ alleine zu radeln, war eine bewusste Entscheidung. Bei den Kontinentdurchquerungen in Afrika und Südamerika war ich jeweils Teil einer Gruppe und wurde regelmäßig in die zwischenmenschlichen Komplikationen verstrickt. Was man braucht zum Alleinreisen, ist die Fähigkeit, sich selbst auszuhalten. Denn manchmal ist der Kontakt zum eigenen inneren Chaos verstörend intensiv und irritierend bedrohlich. Na ja, und manchmal fühlt man sich schlicht einsam und braucht jemanden zum Labern.

 

„SLOW / ARAF“ ist auf die Straße gepinselt, als ich die Severn Bridge verlasse. Das keltische Walisisch wird nach Ewigkeiten der Unterdrückung durch die britische Führung inzwischen wieder aktiv gepflegt. Hier im Süden ist Wales allerdings ziemlich englisch, spielt Walisisch bestenfalls die Rolle eines skurrilen Kulturguts. Am Ende meiner Tour werde ich Freunde in Nordwales besuchen, dort gehört Walisisch zum Alltagsleben.

 

Einen letzten Anstieg muss ich noch überwinden, dann liegt das Tal des Wye und damit eine der schönsten Gegenden Großbritanniens vor mir. Gemütlich schlängelt sich der Fluss durch das schmale Tal, schmiegt sich die Straße an sein Ufer und folgt den Bögen und Kurven. Nach der Hektik von Bristol und Avonmouth fühlt es sich an wie Zeitlupe. Alles geht gemütlicher, entspannter. Auch der Autoverkehr. An der Tintern Abbey stoppe ich. Die Klosterruine zählt zu den schönsten ihrer Art. Und das will bei dem reichen Erbe Großbritanniens wahrlich etwas heißen! 1131 als Kloster von Zisterziensern gegründet, wurde es 1536 aufgegeben und verfiel. Erst Ende des 18. Jahrhunderts entdeckte man die Ruine im Zeitalter der Neoromanik als Ausflugsziel wieder. 1928 wurden die Restaurationsarbeiten abgeschlossen, und heute ist Tintern Abbey die besterhaltene mittelalterliche Kirchenruine in Wales. Ihr Anblick ist bizarr. Die mächtigen Außenmauern scheinen intakt, nur das Dach fehlt. Es wirkt, als sei das seit 400 Jahren leerstehende Gebäude vor kurzem noch bewohnt gewesen. Ein eindrucksvolles Mahnmal der Vergänglichkeit und Zeitlosigkeit.

 

In Monmouth habe ich Schwierigkeiten, den Campingplatz zu finden. Er soll irgendwo in der Innenstadt sein. Eine vierspurige Durchgangsstraße mit rasendem Verkehr verursacht Stress, und niemand weiß von einem Camping. Stattdessen werde ich stadtauswärts auf einen steilen Hügel geschickt und weiß schon nach wenigen Metern, dass ich falsch bin. An einem Baumarkt treffe ich eine Familie, die weiß, wo ich hinwill. „Fahr los, wir kommen hinterher und zeigen dir den Weg“, sagt der Familienvater. Also rase ich mit für mich flotten 30 km/h zurück in die Stadt, während er im Auto hinter mir den Verkehr im 30-km/h-Schneckentempo staut. Das geht tatsächlich ohne Hupen und Hektik. Hinter dem Lenkrad sind viele Briten sagenhaft entspannt. Der Camping liegt traumhaft am Wye und nur einen Katzensprung vom Stadtzentrum entfernt. Er ist spottbillig, erfrischend einfach und wird von Lilly geführt, die mit ihrer mitreißenden Fröhlichkeit alle ansteckt. Mir empfiehlt sie einen Platz vor einem kleinen Holzverschlag mit einer Sitzbank, damit ich abends nicht im Zelt hocken muss. „Außerdem hast du hier Morgensonne“, fügt sie mit wissendem Grinsen hinzu. Ich bin sofort verliebt.

 

Monmouth umgarnt mich mit einer Atmosphäre, die vereinnahmt. Nur den Pizzeria-Test bestehe ich nicht. Lande bei einer Gastrokette mit Fließbandabfütterung statt beim „echten“ Italiener ein paar Häuser weiter. Mein Schicksal war die Speisekarte, die so verführerisch klang. Aber Monmouth weiß zu trösten. Im „Robin Hood“-Pub gibt es zum Ausklang des Tages ein Frischgezapftes und Strom für das Navigationsgerät sowie W-LAN, um meinen Blog upzudaten. Als ich gerade fertig bin kommt ein Herr in bestem Alter und fragt, ob ich am Quiz teilnehmen wolle. „Wir haben Fragen ausgearbeitet, und es werden Pärchen gebildet, die die Fragen beantworten. Für richtige Antworten gibt es Punkte. Die Teilnahme kostet ein Pfund.“ Ich bin zu müde, um mir den Spaß zu gönnen, bleibe aber noch einen Moment, um mir das Spektakel anzusehen. Als die Pärchen gebildet sind, tritt der Spielleiter in die Mitte und beginnt mit seinen Fragen. Es geht um Politik, um Geschichte, um High Society, um Sport, um Musik. Ein bisschen wie „Trivial Pursuit“ in der Liveversion. Liebenswertes England.

 

 

 

13. Etappe, Inverness to Bettyhill, 158 Kilometer

Wie weit geht die Einsamkeit?

Pünktlich um zwölf ist der Regen durch, und der Himmel wechselt in ein tiefstrahlendes Blau. Die Sonne wärmt die kühlen Glieder und trocknet das Zelt in Windeseile. Kurz vor halb eins klicke ich in die Pedale und mache mich auf den Weg. So entspannt war ich noch nie unterwegs. Knapp 40 Kilometer sind es bis ins Tagesziel – eine lockere Kaffeefahrt.

 

Erstes Highlight ist die Kessock Bridge, die Inverness mit den nördlichen Highlands verbindet. Dort steht auch das lokale Fußballstadion. Inverness Caledonian Thistle erreichte 2004 als erster Highland-Vertreter das schottische Oberhaus, in dem über 100 Jahre lang ausschließlich Klubs aus dem Großraum Glasgow, aus Aberdeen, Edinburgh oder ein paar anderen in Mittel- oder Südschottland gelegenen Städten gespielt hatten. Nun mussten Celtic und Co. erstmals gen Norden und lösten auf den schmalen Überlandstraßen, über die auch ich in den letzten Tagen gekurbelt bin, Verkehrsstaus aus. Denn die Fans wollten natürlich dabei sein bei den Kultfahrten in die Highlands. 2013 wurde Inverness sogar Vierter und gewann zwei Jahre später den schottischen FA Cup. Fußball brachte Stolz in die Highlands!

 

Hinter der Brücke beginnt zeitentschleunigtes Hinterland. Die Landschaft ist sichtlich unspektakulärer als in den Glens südlich von Inverness. Ein Allerweltsbild aus sanften Hügeln, auf denen Schafe, Kühe und Pferde grasen und die im Dienste der Landwirtschaft stehen. Sie reflektieren das hiesige Klima, und das ist vor allem nass und windig. Bizarre moosbewachsene Steine oder Mauern, tote Bäume und mit der Hauptwindrichtung gewachsenes Buschwerk dokumentieren eine Natur, die sich arrangiert hat. Und die im heutigen Sonnenschein saftig grün strahlt.

Es ist Sonntag, der Alltag hat zwei Gänge zurückgeschaltet. An einer Tankstelle mitten im Nirgendwo gönne ich mir einen Kaffee. Nur noch 20 Kilometer bis zum Tagesziel. Nach Dingwall führt eine lange Abfahrt, auf der ich nichts zu tun habe. Also kann ich die Landschaft genießen. Dingwall ist durch den Cromarty Firth mit der Nordsee verbunden. Das Wasser prägt Land und Leute in diesem Zipfel der Welt. Im weichen Sonnenschein wirkt alles lieblich und einladend, doch das Wetter kann rau sein hier oben. Dingwall hatte einst einen Nordsee-Hafen, der durch Verlandung trockenfiel. Heute ist die Kleinstadt mit ihren knapp 5.500 Einwohnern Oberzentrum für die Region und lebt vom Tourismus. Am Sonntagmittag sind die Straßen wie ausgestorben, doch es ist zu ahnen, was die Menschen nach Dingwall lockt: eine authentische alte Stadt mit wuchtigen Steinhäusern und einer Infrastruktur, die alle Wünsche befriedigt.

 

Dingwall ist zudem Schottlands Fußball-Wunder-„Dorf“. Der Ross County FC erreichte 2010 als Zweitligist das Pokalfinale (0:3 gegen Dundee United) und wurde zwei Jahre später mit seinem Aufstieg in die Premier League zum nördlichsten Erstligisten Schottlands aller Zeiten. 2016 gewann man den Ligapokal, nachdem im Halbfinale Celtic ausgeschaltet worden war. Das „Dorf“ machte die ganze Liga verrückt, und Dingwalls kleines Stadion unweit des Bahnhofs beherbergte oft mehr Zuschauer auf seinen 6.310 Plätzen, als die Stadt Einwohner hat.

Am Ortsausgang amüsiert mich das Ortsschild, auf dem Dingwalls gälischer Name geschrieben ist: Inbhir Pheofharain. Abgesehen davon, dass ich keine Ahnung habe, wie man das korrekt ausspricht, finde ich keinerlei Referenzen zur englischen Bezeichnung. Gälisch ist eine Sprache, die perfekt zu dieser obskuren Landschaft passt.

 

Die hügelige Nebenstraße frisst noch ein paar Körnchen, dann erreiche ich Evanton und damit mein persönliches Tour-Paradies. Der Campingplatz ist perfekt für den komfortzonensuchenden Radabenteurer. Die im britischen Kurzhaarschnitt gepflegte Rasenfläche badet in strahlendem Sonnenschein unter einem wolkenlosen Himmel. Die örtliche Infrastruktur mit selbst am Sonntag geöffnetem Mini-Spar-Markt sowie Pub liefert alles Nötige für einen perfekten Aufenthalt. Und die Zeltnachbarn sind freundlich und aufgeschlossen. Neben mir ein weiterer Radfahrer, der seit anderthalb Wochen in den Highlands kurbelt und mit dem ich über das Glück des Radreisens schwelge. Und dann ist da noch Gary. Der 52-Jährige ist die gute Seele des Campings. „Ich war lange im Hamsterrad und hab nichts mehr gemerkt“, erzählt er. „Dann starb meine Frau, und ich stürzte ab. Depressionen, Burnout, das ganze Programm. Und Alkohol. Irgendwann habe ich die Kurve gekriegt und mein Leben umgekrempelt. Hab meinen Job gekündigt. Jetzt bin ich Frührentner. Ich hab nicht viel Geld, aber ich bin glücklich. Viel glücklicher als jemals zuvor.“

Garys Genesung dauerte lange. Therapien, Alkoholentzug, die Wiederentdeckung von Seele und Körper, die Neuorientierung abseits der aufzehrenden Strukturen des Arbeitsalltags. „Heute geht es mir großartig“, sagt er. „Ich habe erkannt, dass mein Leben endlich ist und es keinen Sinn hat, nur dem Geld hinterherzurennen. Hier auf dem Camping bin ich zu Hause. Ich wohne in Glasgow, doch im Sommer bin ich meistens hier.“ Als ich ihm meine Geschichte erzähle, erkennen wir viele Gemeinsamkeiten. Darunter die Liebe zum Fahrrad. „Ich habe ein Mountainbike und mache oft Tagestouren“, sagt Gary. „Ich liebe die Schotterpisten, die Einsamkeit, die Natur. Das gibt mir Zugang zu mir selbst, zu meiner Kraft. Dadurch habe ich gelernt, mein Leben zu lieben.“

 

Garys fröhliches und offenherziges Wesen erhellt den ohnehin sonnigen Nachmittag zusätzlich. Die Atmosphäre auf dem Camping ist wunderbar, und ständig kommen Leute vorbei und fragen, ob ich einen Tee möchte oder sonst etwas brauche. Faul im Gras liegend folge ich der Sonne auf ihrem Weg über den Himmel, ehe das Gelände langsam in Schatten fällt und die warme Luft rasch abkühlt. Den Abend verbringe ich im örtlichen Pub, der mit einer erstaunlich bunten Speisekarte aus britischen und thailändischen Gerichten aufwarten kann.

 

Am nächsten Morgen beginnt der 15. Fahrtag in Folge. Noch nie war ich so lange ohne Pause auf dem Rad unterwegs. In Südamerika stöhnte ich einmal über zehn Radtage hintereinander – und das ohne Gepäck! So ändern sich Perspektiven. 200 Kilometer noch bis John O‘Groats.

 

120 davon stehen heute an. Ziel ist Bettyhill an der Nordküste. Der Morgen vergeht in schweißtreibender Kurbelarbeit. Kurz hinter Evanton steigt die Straße zum Ardross Forest um 300 Meter an. Klingt wenig, ist aber fordernd. Es gibt sogar ein paar weitläufige Serpentinen, ehe die Straße in einen Wald führt und flacher wird. „The Struie“ wird die B9176 von den Einheimischen genannt – nach einem gleichnamigen Berggipfel in der Nähe. Aus der in moorigen Brauntönen getauchten Landschaft blinzeln uralte Steinmauern. Die Reise führt vorbei an Orten mit Namen wie Achandunie, Sittenham oder Dublin. Ja, Dublin – so stand es zumindest auf einem Wegweiser.

Auf dem Berggipfel eine Aussichtsplattform. Weiche Hügel strecken sich bis zum Horizont. Im Vordergrund die Bucht des Dornoch Firth, ein weiterer Meeresarm der Nordsee. Eine Gruppe Motorradbiker schießt lärmend Fotos von sich. Biker und Radler stehen in einer seltsamen Beziehung zueinander. Zwei statt vier Räder, die fehlende Schutzhülle und das Gefühl von Freiheit verbinden uns. Die unterschiedliche PS-Zahl und der Lärm trennen uns. Als Radler schwanke ich zwischen Sympathie für und Ärger über Biker. Ihr Lärm geht mir auf die Nerven, ihr Weltbild passt häufig zu meinem. Es ist geprägt von Freiheitsdrang und Unabhängigkeit, hat einen Hauch von „Born to be wild“-Rebellion. Und natürlich verbindet auch der leicht arrogante Spott über Autofahrer, die in ihren abgeschirmten Blechbüchsen so viel verpassen.

 

Ich lasse einen der graubärtigen Biker jenseits der 50 ein paar Fotos von mir schießen, dann rolle ich hinab nach Bonar Bridge und erreiche den nordöstlichen Zipfel Schottlands. In Invershin beginnt eine schmale Nebenpiste zum Falls of Shin Visitor Centre. Das enge Flusstal glitzert in hunderten von Grüntönen. Am Wasserfall, der lange vorher zu hören ist, sieht es aus wie im afrikanischen Regenwald. Lianen, kraftstrotzendes Buschwerk, Farne, exotische Pflanzen. Ein schmaler Fußpfad führt hinab zum Wasser, wo sich die Gischt versprüht.

 

Danach wird die Landschaft offener, und schließlich werde ich in Lairg ausgespuckt, dem letzten Versorgungsort vor dem Ritt in die völlige Einsamkeit. Ein kleiner Spar-Markt bildet das Zentrum des regionalen Handels. Die Preise liegen ein gutes Drittel über denen anderswo. Das Leben hier ist nicht nur einsam, sondern auch teuer. Die restlichen etwa 70 Kilometer bis zum Tagesziel in Bettyhill gehören zu denen, auf die ich mich am meisten gefreut habe. Ganze drei Siedlungen sind entlang der Route auf meiner Karte aufgeführt – obwohl die 836 sogar eine A-Straße ist!

 

Sofort umhüllt mich diese spezielle Highland-Landschaft aus ruppiger Natur und endloser Weite, die in der Ferne flankiert wird von begletscherten und nur ein paar hundert Meter in die Höhe ragenden Gipfeln. Aus urzeitlichen Seen und tiefschwarzen Tümpeln ragt Totholz. Auch hier hinterließen die „Clearances“ der Engländer eine skurrile Mondlandschaft. Die Welt ist befreit von jeglicher Hektik und irgendwie auch Zeit. Gutmütig schlängelt sich die mit ihrer Asphaltoberfläche so gar nicht ins Landschaftsbild passende A836 durch das Gemälde aus braunen und grünen Schatten. Es sind Bilder, für die man all die Qualen auf sich nimmt. Karikaturen unserer vertrauten Komfortzonen. Zugleich bin ich mir bewusst, dass ich trotz allem in meiner watteweichen Komfortblase unterwegs bin und die Landschaft durch den Filter des wohlhabenden Abenteuerreisenden sehe. Ich kurble mal kurz durch und habe auch noch das Glück des prächtigen Wetters. Wie das Leben aussieht, wenn man hier lebt, davon habe ich keine Ahnung. Ganz zu schweigen von der romantisierten „Braveheart“-Vergangenheit, als das Dasein in den Highlands vermutlich noch viel rauer und gefährlicher war.

 

Mitten in der Einsamkeit treffe ich einen Radler aus München. Er kommt von Norden, und an seinem Rad kleben vier vollgepackte Taschen. Er hatte beruflich in Glasgow zu tun und hängt ein paar Tage dran, um in den Highlands abzutauchen. Im Vergleich zu ihm fühle ich mich locker beladen. Wir tauschen uns ein bisschen über die jeweils hinter uns liegenden Abschnitte aus und freuen uns, dass es für beide bergab geht. Und ich habe sogar noch leichten Rückenwind!

 

Bei Tageskilometer 65 erreiche ich den Weiler Crask, der aus einem Pub und ein paar Holzhütten besteht. „Crask Inn“ ist eines der wohl am einsamsten gelegenen Gasthäuser im Vereinigten Königreich. Wie eine Fata Morgana tauchte es plötzlich am Scheitelpunkt des Hügels auf. Im kleinen Garten der Gastwirtschaft duckt sich ein schmales Zelt gegen den flatternden Wind. Viele End-to-Ender verbringen ihre letzte Nacht vor dem Ziel im „Crask Inn“.

Ein Mann mit wirrem Haar, Gummistiefeln und wetterfester Jacke stiefelt heran. Er trägt verwitterte Baumäste, versteinerte Moorbrocken und andere Natur-Devotionalien. Ian ist in den nördlichen Highlands aufgewachsen. Heute lebt er in Nottingham und kommt regelmäßig zurück zu seinen Wurzeln. „Ich hasse die Stadt, aber hier oben kannst du einfach nicht mehr leben. Es gibt keine Arbeit, kaum Möglichkeiten. Trotzdem kann ich ohne dieses Land nicht leben. Deshalb muss ich regelmäßig zurückkommen.“ Seine Mitbringsel wecken Erinnerungen an das Zeitalter der Clans vor den „Clearances“. „Vor allem das Moor hier oben ist einzigartig“, erzählt er und erteilt mir eine Schnelllektion, was sich in diesem Landstrich in den letzten Jahrhunderte abgespielten hat. Im Zentrum seiner wütenden Erzählungen stehen wilde und blutige Schlachten zwischen Engländern und Schotten. Während er spricht, verschwindet das Weiche aus seinen Gesichtszügen, die scheinbar versteinern. „Die Engländer haben uns unser Land geraubt“, wettert er. „Und sie sind immer noch hier! Das macht mich wütend. Ich hasse Engländer. Und jetzt der Brexit. Wir Schotten wollen damit nichts zu tun haben. Wir wollen endlich eigenständig sein. Dafür kämpfe ich.“

 

62 Prozent der Schotten votierten gegen den Brexit. Zugleich bekannten sich aber 2014 bei einer Volksabstimmung rund 55 Prozent auch für den Verbleib im Königreich. Ians Wut richtet sich vor allem auf Maggie Thatcher. „Als die kam“, referiert er, „hat sie sofort sämtliche Subventionen gestrichen. Die schottische Industrie war damals eh schon ziemlich im Arsch, doch das gab ihr den Todesstoß. Tausende Leute haben ihre Arbeit verloren. Eine Katastrophe für die Menschen meiner Generation.“ Dann lacht er plötzlich: „Und stell dir vor, jetzt lebe ich auch noch in diesem verflixten England!“

 

Hinter dem „Crask Inn“ beginnt eine lange Abfahrt, die erst rasant und dann flacher verläuft. Beim winziger Weiler Altnaharra verführt ein Campingplatz zum Bleiben. Auf von Felsen eingerahmtem Terrain liegt er malerisch am Ufer des Loch Naver. Allerdings nimmt er keine Zelte auf, sondern nur Campingbusse und Caravans. In stabilen Metallgittern festgehaltene Mülleimer sowie eine steinerne Schutzmauer vor dem Eingang zum Sanitärraum geben eine Ahnung, wie es hier aussieht, wenn das Wetter nicht so friedlich ist wie heute.

 

Die letzten 20 Kilometer bis Bettyhill sind vergleichsweise dicht besiedelt. Syre kommt als erste erkennbare Ortschaft seit Stunden daher und gefällt mit einer hübschen Holzkirche. Im Strathnaver-Tal passiere ich diverse Farmen und kleine Siedlungen. Überall sind Schafe zu sehen, aber auch Pferdezucht wird betrieben. Es ist ein Landstrich, der mit sich selbst im Reinen scheint.

 

Kurz vor Bettyhill wird es hügelig. Die Küste ist nah, und uralte Fjorde zerklüften die Landmasse. Eine letzte steile Flanke führt mich auf einen Gipfel. Vor mir breitet sich die Nordsee aus. Ich atme tief durch. Gefühlt ist die Großbritannien-Durchquerung damit bewältigt. Das Örtchen Bettyhill ist winzig. Sandstrände laden zum Urlauben ein. Es gibt ein Nobelhotel mit Meerblick, einen winzigen Laden mit allem, was man im Alltag braucht (wozu auch zwei Zapfsäulen für Benzin und Diesel gehören), eine wettergeschützte Bushaltestelle sowie einen Campingplatz, der am Steilhang liegt und seine besten Tage sichtlich hinter sich hat. Eine Rezeption ist nirgendwo zu sehen. Ich klopfe bei einem Mobile-Home an, in dem ein älterer Herr vor dem Fernseher sitzt. Er erzählt mir, dass ich zurück in den Ort muss. Und tatsächlich: Vor einem wettergegerbten Steinhaus hängt ein winziges „Camp Site“-Schild. Auf mein Klingeln geschieht jedoch nichts. Ich will schon wieder weggehen, als sich ein kleines Fenster im Obergeschoss öffnet. Heraus schaut eine etwa 80-jährige Dame mit müdem Blick. Sie erzählt, dass sie krank im Bett liege, ich aber gerne auf dem Camping bleiben könne. „Just put five pounds under the door and help yourself.“ Wunderbares Schottland.

 

Als die Sonne untergeht wird es schlagartig bitterkalt. Den Abend verbringe ich im Nobelhotel und begegne einer dieser vielen britischen Skurilitäten. Es gibt sowohl eine Bar, in der man essen kann, als auch ein Restaurant. Beide führen nahezu identische Speisekarten. Obwohl sich die Gerichte also nicht unterscheiden, kostet es im Restaurant, einen Raum neben der Bar gelegen und mit Meerblick ausgestattet, rund fünf Pfund mehr.

Tour de Britain

Mit dem Fahrrad von Land's End nach John O'Groats

228 Seiten

rund 200 Bilder

A5, Paperback

 

19,90 Euro