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Rezension: "Lauf, Ludwig, Lauf" von Rafael Seligmann

Durch puren Zufall fiel mir kürzlich in einem Antiquariat das Buch „Lauf, Ludwig, Lauf! Eine Jugend zwischen Fußball und Synagoge“ in die Hände. Rafael Seligmann erzählt darin die Geschichte seines Vaters Ludwig Seligmann, der 1907 im fränkischen Ichenhausen als Sohn einer alteingesessenen jüdischen Familie zur Welt kam.

 

Sein Buch liest sich wie ein autobiografischer Roman und zieht den Leser rasch hinein. Es beginnt mit der Ankunft des Vaters von einem Fronturlaub im Ersten Weltkrieg. Stolz begrüßt der Offizier seine beiden Kinder Ludwig und den zwei Jahre älteren Heinrich. Es ist eine Zeit der Hoffnung für Deutsche jüdischen Glaubens, die als Soldaten für die Heimat an der Front stehen und sich dafür Respekt und Anerkennung erhoffen.

 

Als der Vater nach Kriegsende schließlich nach Hause kommt, ist alles anders. Er ist gebrochen von den traumatischen Fronterlebnissen, und die Hoffnung, dass mit dem Fronteinsatz eine größere gesellschaftliche Akzeptanz einhergeht erfüllt sich nicht. Stattdessen kann Ludwigs Vater aufgrund seiner posttraumatischen Störungen den heimischen Bekleidungs-Betrieb nicht fortführen, ist die Familie von Zahlungsunfähigkeit bedroht

 

Ludwig und sein Bruder Heinrich sind höchst unterschiedlich. Ludwig ein Denker, der über den Tellerrand hinwegschaut und die Mutter verehrt. Die schickt ihn auf die höhere Schule, um sein Talent zu fördern. Heinrich ist dagegen ein simpler gestrickter Anpacker, der den Vater verehrt und den jüngeren Bruder bei jeder Gelegenheit unterdrückt. Als sich die wirtschaftliche Lage der Familie weiter verschlechtert, muss er gegen seinen Willen eine Metzgerausbildung machen und entzweit sich von der Mutter. Die Lage der Familie wird immer hoffnungsloser, und schließlich muss Ludwig die höhere Schule verlassen und ebenfalls eine Ausbildung machen. Er kommt nach Ulm, wo er in einem der damals neuen Warenhäuser landet und auf einen ihm zugetanen Chef stößt, der sein Talent fördert.

 

Der jüdische Glaube, die jüdische Kultur und auch die Stellung der Juden im Deutschen Reich spielen wichtige Rollen in Seligmanns Erzählung. Ludwig ist gläubig und geht gerne in der Synagoge, Heinrich verbringt die Zeit lieber in der Kneipe. Die religiösen Riten und Feiertage werden von der Familie gepflegt, und alle Mitglieder sind in der jüdischen Gemeinde von Ichenhausen integriert. Ludwig entdeckt zudem den Fußball und spielt für den FC Ichenhausen, in dessen erster Mannschaft er in jungen Jahren debütiert. Dabei entsteht auch der Buchtitel „Lauf, Ludwig, Lauf!“, der zunächst auf seinen flotten Laufstil gemünzt ist, mit dem er auf dem Flügel reüssiert. Im weiteren Verlauf des Buches wird deutlich, dass "Lauf, Ludwig, Lauf!" noch eine zweite Aussage hat, denn die Familie wird immer wieder mit Antisemitismus konfrontiert. Im Ulmer Kaufhaus lernt Ludwig dann die Tochter des Besitzers kennen, die nach Palästina auswandern will, weil sie sich als in Jüdin in Deutschland nicht willkommen fühlt. Sie will Ludwig mitnehmen, doch der bleibt zunächst Deutschland, Ichenhausen und seiner Familie treu.

 

Im Laufe des Buches erfährt der Leser/die Leserin viel über zeitgeschichtliche Entwicklungen und Ereignisse, über das Zusammenleben von deutschen Juden und Biodeutschen, über die Herausforderungen innerhalb einer jüdischen Familie, in der der Vater als Patriarch seine Rolle aufgrund der Kriegserlebnisse nicht mehr ausfüllen kann. Es ist dieses zeitgeschichtliche Zeugnis aus einer fränkischen Kleinstadt, das einen mitnimmt, bewegt und einnimmt. Man sympathisiert mit Ludwig, bedauert den Vater, eckt mit dem zu Ruppigkeiten neigenden, und doch liebevollen Heinrich an und hinterfragt die Rolle der Mutter.

 

Zunächst mit der Inflation 1923, dann mit der Weltwirtschaftskrise ab 1928 kippt die Geschichte langsam. Zum einen wird geschildert, wie die kaufmännische jüdische Gesellschaft mit den wirtschaftlichen Risiken und Chancen der Zeit umgeht und damit scheinbar die üblichen Vorurteile über „das Judentum“ bestätigt. Als Gegenpart fungiert der Vater, der naiv handelt und von Gutgläubigkeit geleitet wird, was den Niedergang der Familie dramatisch beschleunigt. Es kommt zu Brüchen, es kommt zum kurzen Aufschwung des schließlich von Ludwig und Heinrich geleiteten Familienbetrieb, und dann zum jähen Absturz, als sich der Wind Ende der 1920er Jahre in der immer dramatischer werdenden Wirtschaftskrise dreht und die Juden kollektiv als Schuldige ausgemacht werden für die zahlreichen Verfehlungen der Politik, die vor allem ihre eigenen Interessen und nicht die des Volkes verfolgt.

 

Das Geschäftsmodell der Brüder bricht zusammen, Ludwig muss vor einer übergriffigen Liebe aus Ichenhausen fliehen und findet an einem anderen Ort Anschluss zu einer Witwe und jungen Mutter, die für ihren Mann zum Judentum konvertierte und ein kleines Ladengeschäft führt. Ludwig hat nun eine neue Heimat, entwickelt ein liebevolles Verhältnis zum Sohn der Frau und sieht seine Zukunft an ihrer Seite. Doch als die Nazis immer unverhohlener gegen Juden hetzen und diese auch körperlich angreifen, distanziert sie sich von ihm, und Ludwig kehrt nach Ichenhausen zurück. Dort wird ihm der Kontakt zum Fußballverein verwehrt, weil er dort als Jude nicht mehr willkommen ist, liegt das elterliche Geschäft brach, weil man Juden die Kredite nicht mehr abbezahlt und von ihnen gelieferte Ware einfach behält.

 

Es ist ein bedrückendes Kapitel, das die zeitgeschichtlichen Ereignisse wie im Zeitraffer und zugleich unter der Lupe eines kleinen Ortes wie Ichenhausen deutlich macht. Schon bald stellt sich für die jüdischen Deutschen die Frage nach der Zukunft. Heinrich sieht sie zunächst weiter in Deutschland. Ludwig zweifelt bereits, und für die Tochter seines früheren Chefs liegt sie ohnehin in Palästina. Unterdessen ziehen SA-Schergen durch die Kleinstadt und verbreiten Terror. Als Leser wechselt man nun ständig zwischen den Ebenen und Perspektiven, vom rasanten Zuspruch vieler Deutscher für die so dumpfe und gewaltgespickte „Politik“ der Nazis, von den verheerenden politischen Fehlentwicklungen der Zeit, von der Ratlosigkeit und dem Entsetzen der jüdischen Deutschen über die bedrohliche Entwicklung. Auch der Vater, obgleich ausgezeichneter Frontsoldat, gerät nun ins Visier der brauen Horden.

 

Auf die Warnung eines christlichen Freundes setzen sich die Brüder schließlich aus dem Land ihrer Eltern, aus ihrer Heimatstadt und von der deutschen Kultur ab und emigrieren über verworrene Wege nach Palästina.

 

Diese ohnmächtige Zwangsläufigkeit, mit der Deutschland und die Deutschen voller Begeisterung in Richtung Holocaust marschieren, beschreibt der Autor mit einer beklemmenden Direktheit, die betroffen macht. Es ist ein Buch, das mitreißt, verstehen lässt, das Entsetzen entstehen lässt. Es ist zweifelsohne eine der gelungensten Erzählungen aus der Zeit, und davon gibt es ja einige. Was es nicht ist, ist ein Fußballbuch. Der Untertitel „Eine Jugend zwischen Fußball und Synagoge“ weckt die Erwartung, dass der Fußball eine prominente Rolle in der Geschichte einnimmt. Das tut er nicht. Er spielt lediglich eine Nebenrolle, die allerdings insofern bedeutsam ist, als Ludwig über den Fußball gesellschaftliche Anerkennung erfährt.

 

 

Das Buch "Lauf, Ludwig, lauf" ist erschienen im Verlag Langenmüller, kostet 24 Euro und hat 320 Seiten. Weitere Infos hier 

 

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