Vor den Länderspielen zwischen Deutschland und Luxemburg gab ich nicht nur dem Spiegel ein Interview, sondern wurde zudem vom "Kicker" eingeladen, ein Porträt über das Land zu schreiben. Jener erschien und im Print, was mich sehr freute. Hier könnt ihr meinen Text nachträglich lesen.
"Es gibt keine Kleinen mehr“. Rudi Völlers leicht erregtes Bonmot vom Island-Spiel 2003 versuchte, die Fußballwelt gerade zu rücken. Das bescherte Waldemar Hartmann zwar einen Weizenbier-Kultstatus, ließ aber die Frage offen, ob es wirklich keine „Kleinen“ mehr gibt. Luxemburg gehörte jedenfalls immer zu den „Kleinen“ und war über Jahrzehnte Prügelknabe auf Europas Fußballplätzen. 0:7 hieß es drei Jahre nach Völlers „Es gibt keine Kleinen mehr“, als sich Deutschland und Luxemburg kurz vor dem WM-Start in Freiburg gegenüberstanden.
Wie definiert man „klein“? Bezüglich seiner Landesgröße ist Luxemburg zweifelsohne klein. Der Unterschied zum benachbarten Saarland beträgt nur einen Hauch. Man kann das Großherzogtum bequem in ein paar Tagen mit dem Fahrrad durchqueren und hat alles gesehen. Ich habe es gemacht. Bezüglich seiner Einwohnerzahl reiht sich das Land (nicht die die gleichnamige Hauptstadt!) mit 661.000 Menschen im Ranking der deutschen Groß- und Mittelstädte auf Platz sechs hinter Frankfurt (756.021) und Düsseldorf (618.685) ein. Berlin ist mit fast 3,7 Millionen fünfeinhalb Mal so groß. Geografisch und empirisch erfüllt Luxemburg also alle Voraussetzungen für „klein“.
Und doch stand das Großherzogtum 2024 kurz vor der Qualifikation zum EM-Endturnier in Deutschland – wäre das bei Fortuna Düsseldorf auch denkbar? In der Wahrnehmung bleibt Luxemburg trotzdem „klein“. Peter Neururer bezeichnete Luxemburgs Nationalspieler kürzlich als „Hütchen mit Beinen“.
Tatsächlich ist Luxemburg einerseits eine Fußballnation mit großer Geschichte und andererseits eines der aktuell spannendsten Fußball-Länder Europas. Ich bin 2022 nach Luxemburg gekommen, weil ich eine Radrundreise mit Fußballbezug machen wollte. Das mache ich gerne, das Fahrrad ist ein perfektes Reisemobil und der Fußball ein grandioser Kontakthof mit spannendem sozialgeschichtlichen Background. So lernte ich 2018 schon Albanien kennen, und weil ich diesmal nur wenig Zeit hatte, wählte ich das überschaubare Luxemburg. Es wurden insgesamt fünf Reisen, und am Ende stand ein Buch mit 400 Seiten, das ich „Geschichte einer Fußball-Liebe“ genannt habe. Das mit der Liebe bezieht sich nicht nur auf die Luxemburger, die ihren Fußball lieben, sondern auch auf mich, der sich in Fußball-Luxemburg verliebt hat.
Luxemburg ist europäische Fußballgeschichte in konzentrierter Form. Ein Miniaturland für Zeitreisen. Im Süden des Großherzogtums, „Minett“ genannt, wo Migranten vor allem aus Italien über Jahrzehnte Erz abgebaut und daraus Stahl gemacht haben, schlägt das Fußballherz des Landes. Dort sind die großen Namen zuhause. Allen voran Jeunesse Esch, Rekordmeister, zigfacher Europapokalteilnehmer, nationale Legende. In Esch kann man bis heute spüren, wie wunderbar Fußball als Klebstoff zwischen den Kulturen fungiert. Es soll kaum ein Land der Welt geben, aus dem nicht mindestens ein Abgesandter in Esch lebt. In Düdelingen, Differdingen, Schifflingen, Rodange etc. sieht es ähnlich aus. Und das aus den 1920er Jahren stammende Stade du Thillenberg in Differdingen ist als begehbares Fußballmuseum eine der schönsten historischen Spielstätten, die ich kenne.
Mitten drin im „Minett“ produziert Luxemburgs Fußball-Moderne heute jene Talente, die das kleine Land nach oben gebracht haben. Monnerich, eine gemütliche Landgemeinde ein paar Kilometer nördlich von Esch, ist seit 2003 Sitz der nationalen Fußball-Akademie. Dort entstand jener Geist, der Luxemburg 2024 fast zur EM gebracht hätte. Jahrzehntelang gingen die Nationalmannschaften mit dem Ziel auf den Platz, nicht allzu hoch zu verlieren. Zwischen 1995 und 2007 gewann Luxemburg kein einziges seiner 83 Länderspiele. Tiefpunkt waren ein 0:2 gegen die Färöer 2001 und ein 0:4 in Liechtenstein 2004. Länder, die selbst aus Luxemburger Sicht „klein“ sind.
„Monnerich“, wie die Fußball-Akademie im Land nur genannt wird, änderte alles. Zum ersten Mal wurden Luxemburgs Talente systematisch gescoutet und gefördert. Das kleine Land spielte dazu einen seiner wenigen Vorteile aus: Jeden Tag fahren Kleinbusse durchs Land, sammeln die Spielerinnen und Spieler von überall ein und bringen sie nach Monnerich. Dort wird gemeinsam trainiert und gegessen, gibt es eine Schule für anstehende Prüfungsvorbereitungen, arbeiten professionelle Trainer mit dem Nachwuchs. Am Wochenende wird im Heimatverein gespielt. Wer richtig gut ist, wird früh ins Profiausland verschickt. So wie Leandro Barreiro, der mit 16 in die Mainzer Fußball-Akademie kam und dort veredelt wurde. In Frankreich, Deutschland, Belgien und Portugal hat sich das kleine Luxemburg große Fußballpartner ins Boot geholt, um seine Elite zu schulen.
Entscheidend für den Erfolg aber war ein Mentalitätswandel. Für den stehen vor allem Verbandspräsident Paul Philipp, einst Profi in Belgien, Guy Hellers, lange Fanliebling bei Standard Lüttich und Reinhold Breu, aus Deggendorf stammender früherer Zweitligaspieler (Wacker Burghausen). „Geht auf den Platz und gewinnt“, bläute Nachwuchs-Akademieleiter Breu den Luxemburger Talenten ein. 2006 gewann die U15 gegen die Türkei und Belgien, schlug die U18 Belgien. 2007 gewann Luxemburgs Nationalmannschaft erstmals seit 1995 wieder ein Spiel. 2022 dann der Durchbruch: Die U17 erreichte durch ein 2:0 gegen England (ja, England!) zum ersten Mal ein Europameisterschafts-Endturnier. Das kleine Luxemburg war bei den Großen dabei!
Während der EM-2024-Qualifikation war ich im Land. Luxemburg schlug Island mit 3:1. Im neuen Stade du Luxembourg, auch das Bestandteil der Erfolgsgeschichte, riefen die Fans „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin“. Neben mir stöhnte jemand „Ich habe mich noch gar nicht daran gewöhnt, nicht mehr immer nur zu verlieren, und nun das!“. Das entscheidende Spiel gegen Slowakei ging unglücklich verloren, und beim Relegationsspiel in Georgien spielte der VAR Zünglein an der Waage. Der EM-Traum war geplatzt, doch das Fußball-Land Luxemburg war ein anderes geworden: Selbstbewusst, stolz und dank fortgesetzter Talentförderung auch mit einer Zukunft ausgestattet. In Luxemburg will man sich nicht auf einer „goldenen Generation“ ausruhen, sondern die Basis für dauerhaften Erfolg schaffen.
Dafür steht auch Jeff Strasser, zuletzt Trainer beim nationalen Erstligisten Progrès Niederkorn und Nachfolger von Luc Holtz, ein weiteres Glied der Erfolgskette und beim Mentalitätswandel. 2005 hätte Holtz den kleinen FC Etzella Ettelbrück mit einer ausschließlich aus Luxemburgern bestehenden Mannschaft in der von Ausländern dominierten Nationalliga beinahe zur Meisterschaft geführt. 2008 übernahm er die U21, zwei Jahre später die A-Auswahl „Roud Léiwen“ (Rote Löwen).
Natürlich bleibt Luxemburg trotz allem ein „Kleiner“. Bei 661.000 Einwohnern, davon zwei Drittel mit Migrationshintergrund, ist der Talentepool zwangsläufig überschaubar. Zudem ist Luxemburg eine von nur noch zwei Fußballnationen Europas, in denen offiziell kein Profifußball gespielt wird. Der Vereinsfußball spiegelt die Auswahlerfolge daher auch nicht. Die mit 16 Mannschaften aufgeblähte Nationalliga reicht im durchschnittlichen Niveau an eine Regionalliga in Deutschland heran. Die Zuschauerzahlen sind miserabel, fast jeder luxemburgische Fußballfan hat „sein“ Team im benachbarten Ausland. Beliebtester Verein ist nicht etwa Traditionsverein Jeunesse Esch oder Landesmeister FC 03 Differdingen, sondern der FC Bayern München. Gefolgt von Benfica Lissabon.
Und doch glüht die Liebe vieler Luxemburger für den nationalen Fußball. Eine Lesereise mit meinem Buch „Luxemburg. Geschichte einer Fußball-Liebe“ stieß überall auf große Resonanz. Man ist stolz auf das Erreichte. Auf die aktuellen Erfolge ebenso wie auf die zwischenmenschlichen Werte, die der Fußball in der traditionellen Migrationsgesellschaft geschaffen hat. Und die auch in der Nationalmannschaft schon anhand der Namen in der Aufstellung zu sehen sind.
„Roud Léiw – Huel se“ heißt es in der Landessprache - „Holt sie dir, roter Löwe“. Das gilt in Luxemburg auch am Freitag vor dem Rückspiel gegen Deutschland wieder. Ich werde vor Ort dabei sein.
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