
Welcher Ort der DDR am ärgsten von Umweltverschmutzung betroffen war, ist meines Wissens nie ermittelt worden. Bitterfeld-Wolfen ist in der Verlosung, Böhlen, Leuna, Bad Schlema und ein paar weitere Orte auch. Außerdem Espenhain, ein schmaler Häuserstreifen zwischen Böhlen und Borna, in dem einst eine der größten Dreckschleudern des Arbeiter- und Bauernstaates wütete: Das VEB Braunkohlenkombinat Espenhain, das Kohle in Wärme bzw. Energie verwandelte. Über 8.500 Leute arbeiten dort zu DDR-Zeiten.
Einen davon traf ich auf dem Weg zwischen Stadion und Campingplatz, als er seinen Enkel gerade zum Fußball fahren wollte. Das Stadion lag zwar direkt gegenüber, doch in Espenhain, einst als BSG Aktivist in der zweitklassigen Liga mit unerfüllten Oberligaträumen unterwegs, bietet niemand mehr Fußball an. Das Stadion steht leer und wuchert langsam zu (Jan, bitte übernehmen!). Die Kegelbahn, die erste vollautomatische der DDR, ist aus der Mode gekommen und es funktionieren ohnehin nur noch vier von sechs Bahnen. Immerhin gibt es inzwischen einen Netto, nachdem Espenhain über viele Jahre gar keine Einkaufsmöglichkeiten hatte.
"Das Kombinat hat alles geregelt, auch im Fußball", erzählt der ältere Herr. "Wir waren ja fast alle beim Kombinat, da hat man das mit der Luft auch nicht so eng gesehen. Zumal die nur bei bestimmten Windverhältnissen hier ankam. Drüben in Mölbis war es viel schlimmer". Passt irgendwie zum Titel des Buches, das ich unterwegs lese: "Wir Angepassten. Überleben in der DDR" von Roland Jahn.
Der Enkelsohn will zur nächsten Saison entweder zur SG Rotation nach Leipzig oder zum BSV Borna wechseln. "Fährt da ein Bus hin?", frage ich. "Nein, wir müssen ihn fahren", antwortet der Großvater. Und fügt an: "Die Zeiten sind nicht einfach".
Wo sind sie das, hier im Osten? Gerne würde ich euch fröhliche Geschichten von Aufbruch und Hoffnung erzählen, aber ich finde sie (noch) nicht. Es wird sie zweifelsohne geben, doch mir begegnen Resignation - oder gleich Abschottung. Wie heute morgen im tiefenentspannten ländlichen Raum zwischen Glauchau und Altenburg, wo ich mehrere verbarrikadierte Höfe passierte, an denen schwarz-weiß-rote Flaggen mit Eisernem Kreuz flatterten und wuchtige Fahrzeuge aus US-Fabrikation standen. Stellt man sich so Prepper vor, oder sind es Reichsbürger? Vielleicht liegt es ja an meiner Reiseroute, die überwiegend durch ländlichen Raum geht, in dem wirklich nicht viel los ist. Das bunte und moderne Leben aus Potsdam, Berlin oder Leipzig erscheint hier geradezu unwirklich weit entfernt.
Im schönen Altenburg geriet ich gleich zweimal in Lauschnähe zu Gesprächen zwischen Menschen, die man wohl als Boomer bezeichnen kann und die geprägt waren von Jammerlitaneien, bei denen ich kurz davorstand, einzugreifen. Alles war Scheiße: Das Wetter, die Leute, das Leben, die Stadt, das eigene Schicksal. Selbst der Hund an der Leine, obwohl der die beiden so verliebt wie ergeben anschaute und ihnen reichlich Stoff fürs Gespräch gab. Ich fand es deprimierend. Sind wir nicht, bei allem Unbill in der Welt, erstmal selbst die Schmiede unseres Glücks? Und an einem Dienstagmorgen im historischen Zentrum von Altenburg Kaffee und Kuchen zu gehobenen Preisen genießen zu dürfen zeugt doch durchaus von einem gelungenen Lebenslauf, oder?
Schalten wir mal um zum Fußball. In Altenburg hatte ich gleich nen Dreier, mit der besseren Wiese des FC Altenburg, der herrlichen Skatbank-Arena des SV Motor und dem, was man "Altes Stadion" nennt und in dem der SV Lokomotive spielt. Überhaupt gefiel mir die Stadt gut und ich staune immer wieder, was für städtebaulichen Perlen es hier gibt.
Auf Altenburg folgte Regis-Breitungen, wo eine moderne Funktionsstätte wenig Atmosphäre verbreitet. Das galt auch für Borna, immerhin nach der Wende in der Oberliga Nordost dabei und in meiner Erinnerung damals mit einer kleinen Fanschar unterwegs, die den legendären Ruf "Ohne Mist - Aktivist!" pflegte. Auch hier eine weitläufige und funktionale Spielstätte, in der es in Sachen Stimmung eher mau zugehen dürfte. Im Stadtzentrum war übrigens Markttag, und das stand der gleichfalls ansehnlichen Altstadt durchaus gut. Viel los war allerdings nicht, doch immerhin gab es drei geöffnete Cafés!
Während Altenburg und Borna in meiner Wahrnehmung positiv überraschten, rätsele ich noch ein bisschen über Espenhain, wo ich diese Zeilen in einem vietnamesischen Restaurant schreibe - nach meinem Kenntnisstand die einzige Lokalität, die vor Ort warmes Essen anbietet. Es ist vor allem die Vergangenheit, die mich hier hintrieb. Ich scheine irgendeine verquerte Affinität zu Orten zu haben, die mal so richtig kaputt waren. Mostar, Sarajevo, die Erdölstadt Qyteti Stalin in Albanien, Schwarze Pumpe, Brieske, die Zechenlandschaften im Ruhrpott - so was halt.
Als ich Anfang 20 war faszinierte mich das Brachgelände des Anhalter Bahnhofs in Berlin, wo ich oft durchs Gebüsch kroch und auf Spurensuche ging. Wie auch im Poststadion Moabit. Nun ist in Espenhain aber kaum noch was übrig von der alten Dreckschleuder. Ein paar Verwaltungsbauten, die niemand kaufen will und die vermutlich auch eher aus der Nazizeit stammen. Es hat also etwas unbefriedigendes bzw. unerfülltes, und ich werde nach meiner Rückkehr wohl ein bisschen im www auf Spurensuche gehen müssen, um eine bessere Vorstellung zu bekommen.
Der totale Kontrast zur Tristesse Espenhain ist der Camping am Hainer See, auf dem ich die Nacht verbringe. Mit 25 Euro für einen alleinreisenden Radler mit Minizelt hat er sich mal eben an die Spitze der teuersten Campingplätze für Radfahrer geschossen. Gewöhnliche Parzellen gehen hier bei 40 Euro los, und was ein Platz direkt am Wasser kostet habe ich nicht zu fragen gewagt.
Mein Kommentar "das ist aber ganz schön happig" wurde dann mit dem unschlagbaren Argument "wir sind ziemlich voll, die Leute zahlen es also" abgebügelt. Und so ist es: Fette, hochmoderne Caravans und vor allem dicke Wohnmobile voller frühverrentneter Boomer, die sich irgendwelche Lebensweisheiten an die Fahrzeuge gepinselt haben, bevölkern den Platz.
Gut, dass ich morgen weiter darf.