Also Marokko, das nehm ich jetzt persönlich! Ich stehe vor der Königsetappe meiner Tour - und was machst Du? Schmiedest feiste Pläne mit dem Wettergott, du Königin der ewigen Sonne! Okay, du hattest mich gestern auf dem Weg nach Telouet schon gewarnt und arg garstigen Wind geschickt, der mir entweder direkt ins Gesicht blies oder mich von der Straße schubsen wollte. Doch ich blieb tapfer, kurbelte die 55 Kilometer und 1.200 Höhenmeter im Schneckentempo hoch, kam nach dreieinhalb Stunden hundskaputt am Ziel in der Auberge Agdal an. 300 Höhenmeter waren es noch bis zum Gipfel des Tizi-n-Tichka auf 2.260 Metern - auf elf Kilometern. Überschaubar.
Doch was machst du, Marokko? Nach einer erholsamen Nacht erwachte ich voller Tatendrang, als du alles, wirklich alles, was du an giftigen Wetter im Köcher hast über meiner kleinen Auberge und dem Gipfel des Tizi-n-Tichka ausschüttest: Wind, Regen, schwarzgraue Wolkenmeere, irgendwann sogar Schnee. Schnee! Ey, gestern waren es 25 Grad im Sonnenschein! Glaubst Du etwa, ich habe Winterklamotten dabei?
Die Vorhersage für den Tag ließ Schlimmes ahnen. Regen bis zum Abend, und das nicht zu knapp. Bei einer Etappe von 107 km mit über 1.000 Höhenmetern und dem Gipfelsturm auf 2.260 Meter wahrlich nichts, was man sich als Reiseradler wünscht. Aber hey, das Leben ist kein Ponyhof! Also ordentlich gefrühstückt, Rad gepackt, strategisch angekleidet. Denn auf den ersten 12 km war schwitzen angesagt, dann kamen 40 km Abfahrt, dann wieder schwitzen auf einem 300-HM-Gegenanstieg und schließlich lange ausrollen. Das alles auf einer Straße, die Susi, eine 67-jährige Schweizerin, die vorgestern hochgefahren war und die ich in der Auberge Agdal traf, mit "Verkehr wie auf der Autobahn" umschrieb. Das Team der Auberge guckte jedenfalls skeptisch, als ich bereit war. "Das wird schwierig" lautete die allgemeine Einschätzung, "das solltest du dir gut überlegen". Ein Blick in den Himmel unterstrich das. "Meteo Maroc" prognostizierte Dauerregen bei 6 Grad bis zum Nachmittag.
Um halb neun wuchtete ich mein Rad zur Straße und stellte mich dem Abenteuer. Doch das zeigte mir die kalte Schulter. Den eiskalten Wind frontal im Gesicht und den peitschenden Regen am ganzen Körper spürend, musste ich schon nach wenigen Metern, die Auberge lag noch in Sichtweite, weil ich im Wind kaum vorwärts gekommen war, einsehen: Das wird nichts. Die Königsetappe fällt ins Wasser.
Und nun? Ratlosigkeit. Ich musste irgendwie nach Marrakesch. Dort hatte ich ein Zimmer für die nächsten drei Tage gebucht. Es war alles andere als einfach gewesen, überhaupt etwas günstiges, brauchbares und noch dazu ruhig gelegenes zu finden (ihr erinnert euch vielleicht an meinen Exkurs zur Ruhe). Das konnte ich nicht aufs Spiel setzen. Und noch eine Nacht in der Auberge unterhalb des Gipfels zu verbringen war ohnehin keine Option, weil sie viel zu einsam lag und ich sämtliche Vorräte aufgebraucht hatte. Außerdem: Wer wusste schon ob es morgen besser sein würde?
Man könne mir ein Taxi besorgen, meinten die Herbergsleute. Aber wohin fahren? Bis Marrakesch waren es 107 Kilometer. Und ich hatte auch immer noch die Hoffnung, zumindest ein Teilstück der Strecke radeln zu können. Also beispielsweise die 12 km bis zum Gipfel im Taxi und dann runterrollen. Über 95 Kilometer... Bei 6 Grad im Regen... Der Herbergsvater schüttelte den Kopf.
Das war der finale Knock-out eines Tages, der seinen Triumph auf dem Gipfel und sein Finale in Marrakesch hätte erleben sollen. Nüchtern betrachtet blieb schließlich nur eine Möglichkeit: das Taxi bringt mich 20 Kilometer auf der anderen Seite talwärts nach Agouim, von wo aus ein Bus über den Pass nach Marrakesch fuhr. Geschlagen willigte ich ein.
Dass es die richtige Entscheidung war zeigte sich, als der Bus in den Anstieg zum Tizi-n-Tichka ging. Schneeflocken mischten sich mit Regen, alles wurde vom Wind gepeitscht und die Sicht lag bei null. Es regnete und windete die gesamte Abfahrt bis Marrakesch, wo ich gegen drei Uhr im Regen und bei schlappen 16 Grad aus dem Bus kletterte.
Nun sitzt der Frust tief. Irgendwie ist der Wurm drin in dieser Reise. So ein Wetter so früh im Jahr ist selten, hieß es in der Auberge. Ich hatte mir den falschen Tag ausgesucht. Und hockte nun in Winterjacke in Marrakesch, staunte über die vielen Luxushotels mit all den Schicken und Schönen der Welt und vermisste das chaotische Marokko, das mir plötzlich viel authentischer vorkam. Wahrlich kein Tag, der in meine persönlichen Tourannalen einging.
Die Etappe am Tag zuvor wiederum geht in die Annalen ein: 55 Kilometer, 1.200 Höhenmeter. Das ist schon ein Ansage! Ich komme früh raus aus Aït Ben-Haddou, muss aber ständig Fotostopps einlegen, weil die Landschaft sie erzwingt. Der Wind kommt spürbar von vorne und reduziert meine Geschwindigkeit merklich. Aber noch ist alles okay. Nach ein paar Kilometern wird die Topografie fordernder, kommen die ersten Rampen, nimmt der Wind allmählich seine Rolle als zusätzlicher Gegenspieler ein. Es wird anstrengend. Doch die Landschaft bleibt schön, und ich mache weiter ständig Fotostopps.
Es ist einsam im Hinterland des südlichen Atlas. Autos sind reichlich unterwegs, aber meistens sind es vollklimatisierte SUV, in denen überwiegend Touristen sitzen. Die Einheimischen nutzen Esel und Moped zur Mobilität.
An einem der vielen Fotostopps taucht plötzlich ein Radfahrer auf. Ortlieb-Tasche am Sattel, also Deutscher. Er gehört zu einer Radelgruppe, deren Gepäck mit dem Auto transportiert wird. Wir klagen ein wenig über den Wind, dann ziehe ich weiter, während er auf den Rest der Gruppe wartet. Ich gehe davon aus, dass sie mich bald überholen, was jedoch nicht passiert. Sechs Wochen mit Gepäck stärkt die Radler-Muskeln.
Fünf enge Serpentinen lassen mich wie an einem Korkenzieher die Wand hinaufsteigen. Serpentinen sind großartig auf dem Rad, weil man sowohl nach oben als auch nach unten schauen kann! Auf dem Zenit angekommen, erwartet mich der Wind schon mit feistem Grinsen. Hier hat er freien Lauf und macht mir das Vorwärtskommen spürbar schwer. Es wird brutal. Mein Schnitt sinkt auf unter 15 km/h. Noch rund 35 Kilometer bis zum Ziel.
Die sind schwere Arbeit, und das liegt vor allem am Wind. Kommt er von vorne, braucht es die doppelte Anstrengung, um das Bike zu bewegen. Bei 8 Grad Steigung auf einer Straße mit straffem Gegenwind zu "radeln" ist kein Vergnügen. Man eiert wie ein Besoffener hin und her. Kommt er von der Seite wird es tückisch. Die Böen drücken mich immer wieder aus meiner Fahrlinie auf die Gegenfahrbahn. Spaß macht das nicht mehr.
Mein Pausenziel ist ein Café in Anmiter. Dort erhoffe ich eine Belohnung in Form von Tee à la Menthe. Will durchpusten, und dann die restlichen 20 Kilometer - nun in Richtung Westen und hoffentlich ohne Gegenwind - runterradeln. Doch es kommt anders. Das Café ist geschlossen und der Wind dreht sich mit mir. Die Böen heulen nur so auf, während ich mich an den Rampen abarbeite. Sie sind nie lang, aber sie schmerzen alle. Mein Schnitt kratzt inzwischen an der 14er-Marke.
Nächstes Ziel/nächste Hoffnung: Telouet. Dort angekommen, wird die Laune nicht besser. Im Gegenteil, denn Radwanderer, kommst Du nach Telouet, lass alle Hoffnung fallen! Hier bist Du Objekt. Objekt der Begierde. Und wirst ausgepresst, weil Du keine Wahl hast. Telouet ist der einzige Ort mit nennenswerter Infrastruktur zwischen Aït Ben-Haddou und dem Titel des Tizi-n-Tichka. Alle Touristen landen hier. Deshalb setzen sie in Telouet sogar Fahrzeugeinweiser ein, die den rollenden Geldautomaten anzeigen, wo sie zu parken haben. Vor ihrem Restaurant/Café nämlich. Und weil es einige Restaurants/Cafés in Telouet gibt, laufen diverse dieser Einweiser rum und man wird ganz kirre, weil die Kerle wirklich hartnäckig sind und auch vor Radfahrern nicht zurückschrecken. Es sind lächerliche, unfassbare Szenen. Ein in die Wüstenkleidung eines Berbers gesteckter Kerl winkt mir aufgeregt zu, macht Gesten für Essen, Trinken und Schlafen und stellt sich mir in den Weg, damit ich anhalte. Ich gucke ihn an, er winkt aufgeregt in Richtung Restaurant. Ein Berberclown im Hochgebirge! Ich umkurbele ihn, doch er lässt nicht locker. Erst als ich einen Gang zulege, fällt er zurück. Doch der nächste steht schon vor mir und will mich nun bei sich einweisen. Fluchend radle ich weiter ins Dorfzentrum, wo noch mehr dieser agilen Touristenfänger warten.
Schließlich stoppe ich irgendwo und frage nach dem Preis für einen Tee und ein Berberomlett. In Ouarzarzate kostete mich beides zusammen 30 Dirham (3 Euro). Hier wollen sie 80. Ich lache und nehme nur den Tee, für den die üblichen 10 Dirham fällig sind. Die erhoffte Pause fällt jedoch aus, weil alle naselang jemand kommt und etwas verkaufen will.
Es ist eine absurde Schlacht um die Touristen. Die Preise sind dreimal so hoch wie in anderen Touristennestern, das Angebot überschaubar, die Infrastruktur rudimentär und das Vorhaben, möglichst viel aus jedem herauszupressen bis zum Anschlag ausgeprägt. In Telouet zeigt mir Marokko seine hässliche Touristenseite.
Natürlich gelten Angebot und Nachfrage, natürlich ist es aus Sicht der Einheimischen okay, dass sie von den Touristen profitieren wollen. Und auch sollen - ich zahle gerne mehr als die Einheimischen. Was ich dafür aber erwarte, ist Respekt und Wahrung meiner Würde. Zumal ich radle, und nicht im klimatisierten Bus oder Auto in ihr Dorf einfalle. Aber Respekt gegenüber Gästen gibt es in Telouet nicht. Der Gast als Mensch spielt keine Rolle. Nur sein Geld. Telouet ist ein trauriger Ort.
Ganz anders die Auberge Agdal. Hinter Telouet geht es für ein paar Kilometer bergrunter und ich kann ein bisschen durchschnaufen, während die Restdistanz aus dem Bordcomputer purzelt. Erst die letzten drei Kilometer werden nochmal zur Anstrengung, als es in den Gegenanstieg und erneut in den Wind geht. Dann bin ich endlich da, erfahre tolle Gastfreundschaft an einem Ort, an dem die Gäste respektiert und nicht nur gemolken werden.
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Schröter Ulrike (Mittwoch, 30 Oktober 2024 13:45)
Lieber Hardy, vom bequemen Sessel im Wohnzimmer(Hasenwinkel) hochachtungsvolle, liebe Grüße!!!Ich muss nur Blätter fegen, kann den Herbst genießen und mich über deine „ Erlebnisse“ freuen und mit „aufregen!“Wir freuen uns , dich bald zu sehen! Trotzdem noch eine gute Zeit wünschen dir U.&W.