Marokko hat zweifelsohne seine Perlen. Das Tal der Todrha gehört unbedingt dazu. Ein Naturwunder. Eingeklemmt zwischen Steppe/Wüste auf der einen Seite und dem mächtigen Hohen Atlas auf der
anderen hat der Fluss über Jahrtausende ein grünes Paradies geschaffen. Mitten im staubigen Braungelb der Landschaft blüht das Leben.
Die Straße windet sich in Serpentinen hoch und runter. Die Sicht ist atemraubend, der Fluss und die von ihm geschaffene Oase voller Früchte. Die Dattelbäume sind prallvoll, im November beginnt
die Ernte. Nach zehn Kilometern gemäßigter Steigung verengt sich das Tal allmählich, ehe nur noch ein schmaler Pfad bleibt, an dessen Seiten die Felsen hundert Meter senkrecht in den Himmel
schießen. Kletterer vollführen Kunststücke an den Steilwänden, während sich unten auf der schmalen Straße der Gott des Massentourismus ausgebreitet hat. Busseweise werden sie angekarrt, kommen
aus allen (wohlhabenden) Ländern dieser Welt und sollen kaufen.
Ich bin fast am Ende der schmalen Schlucht, als ich einer der Reisegruppen ausweichen muss. Sie sprechen Tschechisch miteinander. Ich grüße in ihrer Sprache und frage, ob sie ein Foto von mir
machen können. Sie schauen mich staunend an, lachen. Mitten in Marokko steht ein Deutscher vor ihnen, der Tschechisch spricht. Mohamed, ihr Guide, schnappt sich mein Rad (ohne Gepäck, das hatte
ich in der Unterkunft gelassen) und scheitert an dem Versuch, auf den Sattel zu hüpfen. Zu hoch für den stolzen Mann. Als er zudem realisiert, wie bretthart der Sattel ist, guckt er mich
entgeistert an und schüttelt lachend den Kopf. Damit würde er keine hundert Meter fahren.
In der Unterkunft sind drei Brasilianerinnen, die mir am nächsten Morgen beim Frühstück auf den Kopf zusagen, ich sei Deutscher. Ich könne nur Deutscher sein, so wie ich da säße. Da reist man
sein Leben lang um die Welt und bleibt in seiner Geburtsidentität doch erkennbar. Das Trio, allesamt in den "besten Jahren", sprüht vor Intensität. Wir haben nur eine schmale gemeinsame
Englisch-Brücke, doch über die fliegen neckische Provokationen und spielerische Flirts hin und her. Leichtigkeit füllt die Patio des Riads. Dann kommt die Tochter des Herbergsvaters. Anfang 20,
mit Kopftuch und Baby auf dem Arm. Leise, zurückhaltend, abwartend. Abrupt prallen die unterschiedlichen Lebenswelten der Frauen von Marokko und Brasilien aufeinander. (weiter nach der
Fotostrecke Tal des Todrha)
Tinghir ist interessant. Ein Stadt mit dem üblichen runtergekommenen Schick, aber auch eine Stadt mit Selbstbewusstsein. Dabei ist noch nicht mal der Marktplatz asphaltiert, bestehen die meisten Seitenstraßen aus nackten Naturpisten. Im Café treffe ich Ahmed. Er war früher Touristenführer und ist nun in Rente. Mühsam kramt er sein Wissen über die deutsche Sprache hervor. Wir lachen viel, er wünscht mir Glück. Und verrät, dass Tinghir früher eine Bergbaustadt und deshalb sehr reich war.
In der Patisserie locken Zuckerstücke. Umgerechnet zwischen 20 und 30 Cents kosten die Energiebomben. Ich lasse einige mitgehen, denn mein Energielevel ist ziemlich down. Eine leichte Erkältung
plagt mich. Aber vielleicht ist es auch der Reiseschmerz. Zwischen Tinejdad und Tinghir ging es kilometerweit schnurgerade durch lustentleerte Landschaften. Und die nächste Etappe nach Boumalne
Dades verspricht nicht aufregender zu werden.
Das Radfahren strengt an, weil es selten Freude macht. Der Verkehr, die kaputten Orte, die Ödnis. Marokko ist kein Land, das dem Radler in mir das Herz aufgehen lässt. Ich sehne mich nach
Albanien, nach Frankreich, selbst ins chaotische Schwarzafrika, weil es da immer etwas zu entdecken gibt. Hier habe ich nach fünf Wochen im Sattel und rund 2.000 Kilometern das Gefühl, alles
schon mal gesehen zu haben.
Möglicherweise muss man eine Radtour durch Marokko völlig anders angehen. Off-road, abseits der großen Zentren, runter von den wilden Straßen. Richtig rein ins Abenteuer. Das aber verändert den Charakter einer Radreise, die dann zu einem ganz anderen Trip wird. Hätte ich mit 23 toll gefunden, finde ich mit 61 nicht mehr reizvoll. Ich reise, weil ich sehen, fühlen und verstehen will, wie ein Land tickt. Und dazu brauche ich auch die Ballungsräume.
Allerdings beginne ich zu ahnen, dass unser Bild von Marokko vor allem aus bunten, schönen Ausschnitten besteht. Wundervolle Riads, mysteriöse Kashbahs, die Wüste, natürlich Marrakesch mit seinen Souks. Exotisch, orientalisch, voller Gastfreundschaft. Das ganze garniert mit etwas Luxus und endloser Sonne. Bruchstücke der Wirklichkeit. All das, was dazwischenliegt, was Marokkos Alltag ist, findet in den Urlaubsprospekten nicht statt. Meine Tour führt durch diesen Alltag, weshalb ich auch längst nicht mehr voller Vorfreude auf Marrakesch bin, denn da wartet (auch) wieder das Prospekt-Marokko, und das ist mit den Erfahrungen der letzten Wochen eben selten „echt“ sondern vielmehr den Wünschen und Bedürfnissen der Klientel angepasst. Es ist ein bisschen wie mit den Bildern auf „booking.com“, die immer tolle Zimmer zeigen, bei denen man sich vor Ort fragt, wie zum Teufel sie aus dieser Rumpelkammer so ein schönes Foto machen konnten. (weiter nach der Fotostrecke)
Im Gegensatz zu Tinghir sichert sich Boumalne Dades mühelos einen Spitzenplatz in der Rangliste der miesesten Orte dieser Reise. Das ist schade, weil mein Gastgeberteam im Rooftop Hotel Tamarit
wirklich grandios ist. "El Chefe", mit mehr Zahnlücken als Zähnen, radebrecht lächelnd auf Englisch und Französisch, ein junger Rastafari organisiert eine Unterstellmöglichkeit für mein Rad. Auch
sonst sind viele nette Leute unterwegs, wirkt das Leben angenehm geerdet. Zugleich erscheint die Stadt sterbend. Am Abend stoße ich bei der Suche nach vegetarischer Kost mal wieder auf Probleme.
Über Google finde ich eine Pizzeria und frage nach der Karte. Gibt es nicht, aber man hat ohnehin nur drei Sorten. Immerhin eine mit Gemüse. Also mal wieder Pizza Vegetaria. Marokko fehlt hier
seine moderne Seite, die sonst überall zu sehen ist. Der Busbahnhof erinnert an meine erste Tansania-Reise 1986. Irgendwie scheint Boumalne Dades in der Zeit stehengeblieben zu sein. Zurück in
der Unterkunft pustet ein Diesel vor dem Fenster seine Giftstoffe ins Zimmer. Marokko.
Auch das Tal des Dades kann mit dem des Todrha nicht mithalten. Ein schmaler grüner Streifen zieht sich durch die Talebene. Dattelpalmen, Walnussbäume, ein paar gepflegte Gärten. An den Hängen sind die Folgen starker Regenfälle zu sehen. Der bröselige Sandstein wirkt fragil, und wiederholt ist die Straße geflutet von sandigen Abschnitten. Die Steigung ist harmlos, der Ausblick bleibt unaufregend. Nach 15 Kilometern habe ich genug und drehe um.
Spannend allerdings die vielen Lehmhäuser an beiden Seiten des Tals. Kunstvoll verziert. Man kann sich nicht vorstellen, wie viel Arbeit das gemacht haben muss. Viele dieser Lehmhäuser sind allerdings aufgegeben und zerfließen im wahrsten Sinne des Wortes. Sie wurden ersetzt durch gemauerte Behausungen. Verständlich, denn nach jedem Starkregen müssen die Schäden am Lehmmaterial behoben werden. Wer hat da schon Lust drauf? Die Lehmhäuser des Dades-Tal sind ein Stück marokkanische Vergangenheit und insofern prospekttauglich. (weiter nach der Fotostrecke Boumalne Dades und Dades-Tal)
Die Nacht verläuft fiebrig. Es ist wohl doch mehr als Reisekrankheit. Zudem regnet es in Strömen. Also fahre ich die 71 Kilometer zum nächsten Etappenziel Skoura mit dem Bus. Doch das Büro ist
geschlossen. Auch als der Bus, für den ich zwischenzeitlich online gebucht habe, pünktlich um 9:30 Uhr eintrifft, bleibt alles verbarrikadiert. Wir müssen warten. Nach 20 Minuten kommt endlich
jemand. Ein mürrischer Typ, der die Wartenden und den Busfahrer mit genervten Blicken straft. Ich brauche noch ein Fahrradticket. Das überfordert ihn. Stirnrunzelnd sitzt er vor dem Computer,
sucht nach Lösungen, sagt keinen Ton. Unterdessen tritt eine Vollverschleierte ein. Und mit vollverschleiert meine ich genau das: Nicht mal ein Sehschlitz steht ihr zur Verfügung. Vermutlich wird
der Stoff auf Augenhöhe etwas durchsichtig sein, damit sie nicht blind durch die Welt geht. An ihrer Seite zwei Mädel. Das eine vielleicht vier Jahre alt, das andere vielleicht 16. Beide tragen
Schleier. Die Vollverschleierte sieht aus wie ein Gespenst. Was ist das für eine Kultur, die den Frauen so etwas antut? Der Bus-Beamte hat inzwischen aufgegeben und ruft den Fahrer zu sich. Jetzt
wird das Problem afrikanisch gelöst: "Gib mir 20 Dirham, dann steig ein".
Noch etwas, was ich vor meiner Reise immer wieder gehört oder gelesen habe: Marokkaner sind unglaublich freundlich. Stimmt oft. Oft aber auch nicht. Dann sind sie abweisend, grimmig, genervt. Auch untereinander. Ich sitze schon im Bus, als jemand einsteigt, der auf der Suche nach seinem gebuchten Platz ist. Das ist nicht so einfach, denn die Platznummern sind versteckt und viele setzen sich einfach irgendwo hin. Als er zu „seinem“ Platz kommt zuckt sein Kopf und er fordert den dort Sitzenden ohne ein Wort zu verlieren zum Platzwechsel auf. Nein, fröhlich ist dieses Land nicht.
Skoura überrascht. Der Regen hat aufgehört, aber seine Spuren sind überall zu sehen. Es gibt nur eine Asphaltstraße: die durch den Ort verlaufende N10. Skoura überzeugt dafür mit Bildern aus dem Afrika-Klischeebilderbuch. Wackelige Hütten auf dem Markt, Motorwerkstätten auf dem Bürgersteig, alles ein bisschen halbfertig oder schon wieder kaputt. Doch die Atmosphäre ist grandios. Eine ungewohnte Ruhe und Gelassenheit geht von der kleinen Oasenstadt aus. Ich habe eine Unterkunft mit dem Namen Dar Calme gefunden, die ihren Namen zurecht trägt. Wunderbare Ruhe. Dort will ich nun meinem maladen Körper wieder etwas Zeit und Raum schenken, damit diese Tour weitergeht. (Fotostrecke Skoudra)
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Christian (Sonntag, 27 Oktober 2024 19:12)
Danke für die tollen Berichte. Und in Boumalne Dades hatte ich 2018 doch glatt die gleiche Unterkunft wie du. Mit dem gleichen Ausblick auf die Autowerkstätte gegenüber :)
Weiterhin alles Gute auf der Reise!!!!