Marokko beherrscht die Kunst, schönes in hässliches zu verwandeln. Das klingt hart, doch wer nach Larache kommt wird sofort verstehen, was ich meine. Eine wunderbare Medina am Hang, eine Burg aus dem Fundus von "1.000 und eine Nacht" und ein unschlagbarer Blick auf den Atlantik. Das reicht normalerweise zur 1A-Touristenattraktion. Doch Larache verweigert jede Romantik. Die Uferpromenade zubetoniert und von einer lärmenden Straße flankiert. Der Strand zugemüllt, die Medina dem Verfall geweiht. Selbst das wunderschöne "Balcon Atlantico Café" ist geschlossen. Man möchte in die Kaffeehäuser stürmen und die dort dauerpalavernden Männer aufrütteln, damit sie sich endlich aufraffen und die Schönheit ihrer Stadt würdigen.
In Asilah, wo ich das Wochenende verbrachte, war es ähnlich. Ein Mann fegte den Bürgersteig vor seinem Haus. Doch statt den Dreck aufzukehren und zu entsorgen fegte er ihn mit Schmackes in den Rinnstein. Wo er prompt vom Wind wieder verteilt wurde. Dafür ist Asilahs Medina tipptopp! Alles frisch gestrichen und schön herausgeputzt. Asilah wird entsprechend gepriesen in den Reiseführern, was dann wieder allerlei Touristen aus der Komfortzone anlockt. Darunter deutsche Rentner, die den Winter mitsamt Wohnmobil in Marokko verbringen, oder eine Gruppe belgischer Oldie-Fahrer, deren Fahrzeuge bei Asilahs männlichem Nachwuchs für nervöses Handyzücken und coole Posen vor Porsche Targa und Co sorgte.
Die etwas über 40 Kilometer zwischen Asilah und Larache verliefen unspektakulär. Die Landschaft war überraschend grün, und so viele Honig- bzw. Wassermelonen habe ich noch nie auf einem Haufen gesehen. Über Kilometer zogen sich die Verkaufsstände, wobei die Früchte nach marokkanischer Sitte zu gewaltigen Türmen aufgebaut waren. Nur angehalten und gekauft hat niemand. Wie werden die Händler diese Fruchtmassen jemals noch loswerden in dieser Saison?
Die Handvoll durchquerter Dörfer kamen als Afrika mit Bildbandpotenzial daher. Titel: "The real Africa". Es geht los mit Müll, dann kommen ein paar wackelige Bretterverschläge und schließlich das Dorf mit Verkaufsständen, Eselkarren und, wir sind ja in der Gegenwart, blauen Taxen, die immer erst dann losfahren, wenn alle Plätze besetzt sind. Am Ende dann wieder Bretterhütten und Müll, ehe die Landschaft erneut übernimmt.
Als bepackter Radfahrer fällt man auf und wird ständig fröhlich angehupt oder angewunken. Heute morgen kam mir eine Gruppe Rennradfahrer entgegen, die sich kaum einkriegten vor Freude, mich zu sehen. Die Marokkaner sind eben ein fröhliches Volk. Schade, dass die Verständigung so schwierig ist, denn mehr als ein paar schmale Sätzchen auf Französisch, Spanisch oder Englisch kommen selten zustande. Mein Arabisch macht allerdings auch kaum Fortschritte. Aber gebt mal "ich hätte gerne einen Kaffee mit Milch bitte" bei Google Translate ein (hier schon gemacht) und lasst euch die arabische Variante vorsprechen, dann bekommt ihr eine Ahnung von der Herausforderung.
(weiter nach zwei Fotostrecken, zunächst Larache und dann Asilah)
Kommen wir zum philosophischen Teil des Abenteuers. Ihr habt es möglicherweise schon bemerkt: Dieses ist eine ungewöhnliche Reise. Ich sitze nicht ständig im Sattel und spule Kilometer ab oder fresse Höhenmeter. Ich reise entspannter, entschleunigter. Schrecke auch nicht davor zurück, mein Rad mal in den Bus zu werfen und mich ein paar Kilometer fahren zu lassen. Nämlich immer dann, wenn die Sitten auf der Straße so verroht sind, dass sie mein Leben gefährden. Diesen Thrill brauche ich nicht (mehr).
Seit 15 Jahren bin ich als "the hardy cyclist" unterwegs, habe Afrika und Südamerika auf dem Rad durchquert, Albanien, England, den Balkan, vieles in Ostdeutschland und so manch Gegend in Frankreich, meinem Lieblingsradelland. Mit dem Rad zu reisen habe ich erst spät entdeckt, doch auch davor war ich viel unterwegs. Erst mit Rucksack und trampend, dann mit einem winzigen Campingbus, oft mit der Bahn oder per Bus. Ich war immer Individualist. Alles, was von der Stange kam, passte mir nicht. Freiheit hat viel mit Abwesenheit von Besitz, von Luxus und materiellen Bedürfnissen zu tun.
Auf dem Fahrrad verbindet sich das alles zu einer perfekten Melange, zumal ich dadurch auf meine geliebten Campingplätze kann und Hotels oder Pensionen nur im Ausnahmefall brauche. Es gibt kaum eine günstigere Art zu reisen als Campen mit dem Fahrrad. Und viel Geld verdienen war nie meine Motivation. Also hatte ich meistens "nur" genug, aber selten zu viel.
Doch der Zahn der Zeit nagt an allem, und neben sich schleichend verändernden Lebensumständen - Campingplätze sind seit Corona und dem Reisemobilboom nicht mehr dieselben und haben viel Charme verloren - haben auch mein Körper und meine Seele Prozesse durchgemacht. Inzwischen bin ich 61 und will diese Reise nutzen, um zu erfahren (und zu spüren), was das sechste Lebensjahrzehnt so zu bieten hat. Was ist anders als in meinen 20ern, als ich problemlos in riesigen Schlafräumen in englischen Hostels übernachtete, weil der jugendliche Elan genau das brauchte? Schlafräume gab ich schon in meinen frühen 30ern auf, denn zur Freiheit gehört auch Freiraum für Seele und Geist - und den gibt es nicht, wenn die ganze Nacht Remmidemmi ist. Inzwischen schaue ich sogar nicht mehr nur nach "ruhige Lage" und "Einzelzimmer" auf den einschlägigen Portalen, sondern wähle bevorzugt Zimmer mit eigenem Bad. Der Prozess des Älterwerden zieht offenbar einen gewissen Hang zur Spießigkeit und Abgrenzung nach sich.
Aber Leben findet nun mal nicht im Kopf und nach dessen Wunschbildern statt, sondern vor allem im Herzen, in den Gefühlen, im Hier und Jetzt. Zu den Dingen, die ich auf meinen Reisen gelernt habe gehört die Fähigkeit, auf meine innere Stimme hören zu können. Gibt man ihr genügend Raum und Zeit, kommt sie irgendwann zuverlässig mit der Antwort auf "was brauche ich jetzt?".
60+ bedeutet auch, dass der Körper andere Signale gibt. Auf Etappen von 100 und mehr Kilometern, bei denen ich nur Kilometer schrubbe, habe ich keine Lust mehr. Genuss soll es bringen, das Radfahren. Ich will nicht mehr von 8 bis 18 Uhr im Sattel sitzen, um "Strecke zu machen". Sicher: ich will mich immer noch fordern. Aber nicht mehr überfordern. Bei 35 Grad mit der Sonne im Rücken einen Zehn-Prozent-Anstieg mit 15 Kilo Gepäck hochzuächzen ist Quälerei. Sie gehört zu einer Radreise natürlich dazu, aber sie will dosiert sein.
Ich reise mit allerlei Fragen. Wie fühlt sich eine Radreise an, die in einem Land wie Marokko manchmal innerhalb der Komfortzone läuft, meistens aber außerhalb? Was ist mit 61 anders als mit Ende 40/Anfang 50, als ich in Afrika und Südamerika unterwegs war (und mein Gepäck vom begleitenden Lastwagen tragen ließ, während ich heute alles selbst schleppen muss)? Wo verlaufen die Grenzen der Möglichkeiten, vor allem aber die Grenzen der Leidensfähigkeit? Wohin treibt mich meine Neugier, zu welchen Abenteuern bin ich bereit, wo schrecke ich zurück?
Ins Ungewisse zu gehen strengt an. Bequemlichkeit bekommt mehr Bedeutung, wenn man raus ist aus den wilden Jahren. Weil man weiß, dass es nicht nur schön wird. Und weil man sich fragt, wie hoch der Preis sein wird und ob man dafür nicht auch was Nettes bekommen könnte. Entspannt am warmen Kaminfeuer sitzen, mit nem gutem Buch und nem warmen Tee, zum Beispiel.
Marokko ist kein Land, mit dem ich auf Anhieb warm geworden bin. Nicht wie Albanien 2019, als ich nach ein paar Stunden schon schwer verliebt in Land und Leute war. Hier ist vieles anstrengend, ungewohnt, irritierend und verwirrend. Die Versorgung als Vegetarier eine unbefriedigende Herausforderung. Der Autoverkehr ein Drama, die Sprache eine schier unüberwindbare Hürde (ich bin Selbstlerner, brauche dazu aber vertraute Buchstaben. Kyrillisch war keine Problem, Arabisch ist eins). Die Kultur irritierend - vor allem in ihrer Verbindung mit der Religion. Ich kann nicht behaupten, dass ich es allzu sehr genieße, in einer Bar mit ausschließlich Männern zu sitzen und Frauen nicht angucken zu dürfen.
Manchmal fühlt es sich an, als sei ich im falschen Land. Dann kommen Zweifel, ob diese Reise richtig ist. Das ist neu, das hatte ich bislang erst einmal in meinem Reiseleben. Mit 21, als ich mit dem Interrail-Ticket in ... Marokko landete und nach ein paar Tagen wieder abhaute.
Nicht warm zu werden mit dem Land ist jedoch kein Grund, mich nicht darauf einzulassen. Und genau das versuche ich jeden Tag: den inneren Widerstand spüren, mein beharrliches Festhalten an der Komfortzone, die Widersprüche und Anstrengungen, das Fremd-fühlen, die wunderbaren Begegnungen mit vielen Menschen, die irritierenden Begegnungen mit anderen. Manchmal ist das soziale Miteinander hier ziemlich rau.
Diese Reise ist wenig geplant. Ich habe nur grob Ziele im Kopf, die den Umständen geschuldet sind. Wenn ich beispielsweise den Hohen Atlas fahren will muss ich das tun, bevor der Winter anbricht. Hauptsächlich aber will ich mich treiben lassen. Nicht jeden Tag die Taschen ans Fahrrad klemmen und losradeln. Mal drei Tage bleiben, vielleicht sogar mal vier, wenn es mir irgendwo gefällt. Und dann schauen, wie es weitergeht. Keine Rad-Reise, eher ein Rad-Gleiten, zumal ich regelmäßig das Laptop aufklappen muss, denn die nächste Zeitspiel-Ausgabe soll im Dezember erscheinen.
Ganz sicher ist diese Reise auch eine Reise ins Innere. Schließlich beginnt mit 60 ein Lebensabschnitt, der auch den eigenen Blick auf die Welt verändert. Plötzlich ist vieles anders. Das Feuer ist noch da, aber es lodert mehr, als dass es brennt. Gemächlicher, ruhiger, beständiger. Die Welt um mich herum ist jünger geworden. Das ist eine neue Perspektive. Ich spiele nicht mehr auf der Hauptbühne, auf dem Jahrmarkt der Gefühle, Begehrlichkeiten und Verlockungen, sondern auf einer Nebenbühne. Dort, wo die ruhigeren Stücke laufen. Die mit Tiefgang. Kein flirten im Café mehr, stattdessen die Frage nach meinem Alter und respektvolles Nicken, wenn ich es preis gebe. Wenn das keine Herausforderung ist!
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Dieter Fuhrmann (Montag, 30 September 2024 19:57)
Hallo Hardy,
Sehr gerne lese ich deine Reisebericht... Ich war selbst des öfteren in Marokko mit dem Fahrrad und habe es immer sehr genossen. Allerdings weiter südlich im Hohen Atlas und Antiatlas und noch weiter südlich... Dort ist zumindest der Verkehr sehr gering.
Bis November kann man im Hohen Atlas noch fahren, nur nachts wird es empfindlich kühl..
Gute Reise noch und hoffentlich wirst du dich noch an oder mit Marokko erwärmen.. Bin aus Göttingen und war auch schon bei Vorträgen von dir.. �Liebe Grüße Dieter
Torsten (Dienstag, 01 Oktober 2024 13:35)
Mensch Hardy, ein schöner Text, wunderbar geschrieben!!
Weiter gute Fahrt und beste Grüße,
Torsten