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Am Ende des Sommers

Ist es der Geruch? Die braungelbe, staubige Weite? Das Chaos auf den Straßen, auf denen allerlei zwei- und vierbeinige Wesen ohne erkennbare Ordnung über die Straßen navigieren? Als ich am Montagmorgen in Nador nach 42 Stunden von der Fähre rollte war da jedenfalls sofort dieses spezielle Afrikafeeling da. Eine Mischung aus Abenteuer und Herausforderung, aus Liebe und Respekt. Afrika fordert, gibt aber zugleich auch bereitwillig.

 

Der Ausbruch aus dem Alltag fällt nach dem Reisestart in der Komfortzone immer ein bisschen schwer. So viele Dinge sind in letzter Sekunde noch zu erledigen, an so vieles muss man denken. Der Perfektionismus der Heimat reist zunächst mit in die Fremde. Dort muss er dann aber zwingend weichen, denn als Gegenspieler zum freien, offenen Reisen versorgt er die eigene Erwartungshaltung ständig mit neuen Forderungen und Ansprüchen und überzeugt den Komfortzonenblick, dass alles funktionieren müsse, nichts scheitern dürfe und die Anstrengungen trotzdem überschaubar bleiben.

 

Das geht natürlich nicht, und reist man mit dieser Haltung, ist der Ärger vorprogrammiert. Vor allem in Afrika. Da kann man noch so schön planen, die Realität vor Ort wird alles blitzschnell umwerfen Und dann wird es kompliziert, denn einher mit der Erwartungshaltung geht das Bedürfnis nach Kontrolle. Noch so ein störrischer Gegenspieler des losgelösten, freien Reisens. Etwas zu kontrollieren heißt, in engen Bahnen zu denken. Manchmal sicher sinnvoll und angemessen. Oft aber nur hindernd und vor allem behindernd. 

 

Marokko ist ein guter Lehrmeister. Das Land fordert Kontrollverlust, um die Kontrolle zu behalten und fließende Lösungswege im Blick zu halten. Seit meiner Ankunft stehen Kontrolle und Erwartungshaltung unter Dauerstress, so sehr geht es ihnen hier an den Kragen. Nehmen wir die Jahreszeit. An der Nordküste Marokkos wird der Sommer am 15. September schlagartig beendet. Dann schließen alle Campingplätze, Strandbars, Restaurants und kleinen Hotels, die sich dem Sommertourismus gewidmet haben. Was meine Routenplanung für die erste Woche schon am ersten Fahrtag komplett über den Haufen warf. Zwei mögliche Übernachtungs-Campingplätze hatte ich als Zwischenstopp für die 120 Kilometer nach Al Hoceima vorgesehen. Einer nach 56 Kilometern, der andere bei Kilometer 88. Als bei Kilometer 56 nichts an einen Campingplatz erinnerte, ahnte ich böses, denn auch von den zahlreichen Strandkaffees entlang der Küste waren die allermeisten zugerammelt gewesen. Steuerte ich in ein Problem?

 

Als ich mal wieder eine der zahlreichen Polizei-Kontrollen passierte (die Nordküste gehört zur Fluchtroute aus dem südlichen Afrika, Spaniens EM-Shootingstar Williams kam mit seiner Mutter auf diesem Weg nach Mellila), nutzte ich die Gunst der Stunde und bat einen Beamten, mal beim nächsten Camping anzurufen. Und tatsächlich: auch geschlossen! Aus zwei möglichen Übernachtungsplätzen waren plötzlich null geworden und ich hatte tatsächlich ein Problem. Bis Al Hoceima waren es noch 56 ziemlich wellige Kilometer. Die Beine waren schon schwer, und über die Anfahrt mit drei steilen Rampen nach Al Hoceima hatte ich schlimmes gehört. Durchfahren war also irgendwie keine Option, wenn ich nicht gleich am ersten Tag überziehen wollte.

Die Polizisten waren ebenfalls ratlos. Wild zelten sei in der Gegend nicht erlaubt, und sie würden wegen der Flüchtlingsroute auch alles scharf kontrollieren. Ein Hotel war ihnen weit und breit nicht bekannt. Auf Booking.com fand ich eine Strandhütte ein paar Kilometer hinter Tazaghine. Eine schmale Schotterpiste führte ins Niemandsland. Weit und breit waren keine Menschen zu sehen. Dafür stand dort die Hütte, die auf booking.com abgebildet war! Als ich ankam, war alles verrammelt. Drei Männer kamen jedoch grade vom Fischen zurück und ich fragte, ob sie etwas wüssten über die Hütte. Sie lachten, als ich ihnen die Booking-Anzeige zeigte. Schüttelten den Kopf. "Fermé". Geschlossen. Wir kamen ins Gespräch. Wo ich herkomme, wo ich hinwill. Das Übliche halt, wenn ein Radfahrer an einem einsamen Sandstrand aufkreuzt und nach einem Übernachtungsplatz fragt. Sie schüttelten lachend die Köpfe über mein  Vorhaben - ein Marokkaner würde nie auf die Idee kommen, mit Fahrrad und vollen Gepäcktaschen durchs Land zu fahren. Viel zu bergig! Dann trat einer vor und sagte "come". Ging zur Strandhütte, zückte einen Schlüssel, schloss auf.

 

"Ach, es ist ihre?", fragte ich. "Ja, ich übernachte hier auch manchmal". Er lud mich ein, mich umzuschauen. Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche, Bad. Alles da. Ein kleines Paradies! Ich fragte nach dem Preis. Er guckte mich an, nickte und meinte: wenn es Dir gefällt, lade ich dich ein, es ist eh keine Saison. Aus Ratlosigkeit war ein Volltreffer geworden! Nachdem ich geduscht hatte, machten wir uns einen Kaffee und tauschten ein bisschen Lebensgeschichten aus. El Khaldi hat früher in einer Bank gearbeitet und ist jetzt Rentner. Die Fischerei ist nur ein Hobby. "Es beißt eh nichts an". Und auch der kleine Garten hinterm Strandhäuschen wirft nichts mehr ab. "Bis vor ein paar Jahren war alles grün, da wuchsen Tomaten und so. Jetzt kommt kein Regen mehr, fällt alles trocken", sagte er traurig. Klimawandel zum Anschauen. Danach fuhr ich zum Einkaufen nach Tazaghine. Sechs Kilometer, fast nur bergauf. Als ich am ersten Mini Market im Dorf hielt, stürmte die Dorfjugend auf rostigen Fahrrädern an. Einige in Fußballshirts. Neben PSG vor allem saudische Mannschaften. Der moderne Fußball macht die arabische Welt stolz, denn durch das saudische und katarische Geld spielt man plötzlich mit ihm Konzert der Großen. Auf dem Trikot eines der Jungs prangte "Ronaldo".

 

Ich griff zum bewährten Rezept für solche Situationen. Da wir eh keine gemeinsame Sprache haben, kann ich auch gleich Deutsch sprechen. Das sorgt garantiert für Ratlosigkeit und gute Laune. Und so war es! "Mon ami", schallte es schon bald fröhlich aus allerlei Kindermündern, während ich weiter hoch ins Dorf ächzte, weil da angeblich jemand Tomaten verkaufen würde. Nur wo? Also kamen die Kinder ins Spiel. Ein Tomatenbild auf dem Handy anzeigen lassen und schon bürstete einer der jungen Kerle vorweg. Kurz darauf stand ich in einer Art Garage, in der ein sehr alter Herr ein paar Feldfrüchte verkaufte. Ich war vermutlich sein erster Kunde aus der Komfortzonenwelt, und er gab sich ausgesprochen große Mühe, die schönsten Stücke rauszusuchen und sie mir für umgerechnet 20 Cents zu verkaufen. Beseelt raste ich zurück zu meiner Hütte und zauberte ein köstliches Mahl, ehe der Abend im Gespräch mit meinem herzensguten Gastgeber El Khaldi über wachsende Bauchumfänge im Alter und das Leben generell verging. Afrika hatte mir das erste Abenteuer geschenkt!

 

(weiter gehts nach der Bilderstrecke)

So richtig rund läuft es seitdem aber noch nicht, und die Hausforderungen sind vielfältig. Da ist die Übernachtungsfrage, die sich vermutlich nur hier oben im Norden stellt. Und da ist vor allem die Verpflegungsfrage, denn zum ersten Mal seit Ewigkeiten habe ich als Vegetarier echte Nöte, mich zu versorgen. Und Essen ist auf kraftraubenden Radtouren mit reichlich Höhenmetern natürlich essentiell. Damit hatte ich ehrlich gesagt nicht gerechnet. Schon am Tag meiner Ankunft in Nador musste ich aufwändig nach einem Restaurant suchen, dass fleischfrei kocht, und auch in Al Hoceima war es wieder ein schwer zu lösendes Problem.

 

Al Hoceima, Berber-Hochburg im Norden und als eine der sichersten Städte der Region beschrieben, war ohnehin eine echte Kraftprobe. Die Stadt liegt auf drei Hügeln, und um ins Zentrum zu kommen muss man sie alle drei nacheinander überwinden. Der erste hatte knapp drei Kilometer mit einem Schnitt von 8 Prozent und bis zu 16 Prozent in der Spitze. Da war selbst das Schieben kaum noch möglich, zumal mir die Sonne im Rücken brannte. Schweißgebadet oben angekommen, traute ich mich zunächst gar nicht, gleich wieder runterzufahren, doch das Navi beharrte auf "talwärts". Mit 60 km/h und mehr raste ich also hinab, stieß auf eine vierspurige Stadtautobahn und kämpfte schon bald im Gegenanstieg, der diesmal unter 8 Prozent blieb, mich dafür aber in eine Dieselwolke der keuchenden Lastwagen einhüllte. Oben angekommen ging es gleich nochmal runter und dann zum dritten Mal steil bergauf. Diesmal immerhin nur einen knappen Kilometer, dann war ich am Ziel. Drei Aufstieg an einem Tag, das hatte ich zuletzt bei der Dreifachbefahrung des Mont Ventoux gemacht und das war ähnlich verrückt gewesen. Al Hoceima ist mit dem Fahrrad quasi nicht zu erobern.

 

Mich hinterließ die Stadt ratlos. Ein endloser Verkehrslärm zieht sich durchs Zentrum. Es ist stickig und das Attribut "schön" fällt einem wahrlich nicht ein. Das gilt auch für den durchaus netten Sandstrand in der Stadtbucht, zu dem man - natürlich - erstmal tausend Stufen runterklettern muss und in der zwei moderne Hochpreishotelbunker die Sicht versperren. Das alles passte zum Gefühl, mit Marokko noch ein bisschen zu fremdeln. Der Funke ist längst noch nicht übergesprungen, was aber sicher auch daran liegt, dass ich bislang deutlich mehr Zeit und Energie für die Problemlösung (Unterkunft, Verpflegung, krasse Rampen) als veranschlagt brauchte. Allerdings irritiert mich ehrlich gesagt auch der arabische Alltag mit einer überwältigenden männlichen Dominanz in Cafés, Bars und Alltag stärker als ich es erwartet hatte. Das Leben wirkt bei aller Hektik und Bewegung diszipliniert und auf eigenartige Weise ruhig. Dazu kommen Sprachbarrieren, denn hier im Berber-Land spricht man die Berber-Sprache oder Arabisch, aber kaum Französisch und allenfalls ein bisschen Spanisch. Oder gleich Deutsch, wie im Restaurant in Nador, wo ich Mohamed Amine kennenlernte, der gerade sein Abi in Deutsch gemacht hat und sich sehr freute, seine Sprachkenntnisse an mir ausprobieren zu können. Er würde gerne nach Deutschland kommen und in der Pflege arbeiten, sagte er, als ich ihn fragte, warum er Deutsch gelernt habe.

 

Angesichts der herausfordernden Unterkunftsfrage waren die drei geplanten Etappen nach Chefchaouen nicht wie geplant möglich. Entlang der Nordküste gab es keine Möglichkeit und zudem nur kleinere Orte, in denen das Versorgungsproblem dazu trat, da ich dort nicht mit vegetarischem Essen rechnen konnte und der stattdessen angebotene "grüne Salat" nicht reichen würde. Die Route durch das Rif-Gebirge über Targuiste, Issaguen und Bab Bered zerschlug sich ebenfalls, da die Unterkunftslage dort unklar war und weite Gebiete fest in der Hand der Marihuana-Mafia sind, es also nicht ganz ungefährlich ist. Ich hörte von Radfahrern, die dort angegriffen wurden. Nun muss man mit solchen Geschichten immer ein bisschen entspannt umgehen, aber das Gesamtpaket riet mir dann doch, die Distanz besser anders zu überwinden. Also kletterte ich in Al Hoceima in einen Bus, der mich für 140 Dirham (knapp 14 Euro) binnen fünfeinhalb Stunden mitsamt Fahrrad nach Chefchaouen brachte. Er fuhr die Rif-Runde, und spätestens in der Kif-Hochburg Issaguen war ich dann echt froh, nicht auf dem Fahhradad zu sitzen, denn dort herrschte eine fast endzeitliche Stimmung.

 

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Das ist in Chefchauouen natürlich völlig anders. Die "blaue Stadt" am Hügel ist eine der Touristenhochburgen Marokkos und wahrlich sehenswert. Enge Gassen, vollgepropft mit Händlern, die für Touristen gemachte Ware und Kunsthandwerk feilbieten. Meine Unterkunft liegt mitten in der autofreien Medina, und die knapp zweieinhalb Kilometer vom Busbahnhof dorthin gehörten zu den größten Herausforderungen, die ich auf so kurzer Distanz jemals zurückgelegt habe. Es geht los mit 16 Prozent, was selbst zum Schieben fast zu anstrengend ist, und bleibt kontinuierlich bei acht Prozent. Als die Straße zu Ende war ging es über Treppen weiter, und das richtige Haus in der verschachtelten Medina zu finden war ein weiteres Kunststück. Also war ich mal wieder schweißgebadet, als ich ankam und mietete mich gleich mal für drei Tage ein, um ein bisschen besser in Kontakt zu diesem Land zu kommen, das mir bislang noch seltsam fremd geblieben ist.

Womit wir wieder bei den Herausforderungen sind, die Erwartungshaltung und das Bedürfnis nach Kontrolle mit sich bringen. Da hab ich wohl nach ein bisschen Justierungsarbeit zu leisten, inshallah!

 

Gruß in die Heimat, euer hardy cyclist

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Kommentare: 3
  • #1

    Christof Schauff (Freitag, 20 September 2024 19:15)

    Eine einzige Bilderstrecke hat gereicht, jetzt hat Regina Marokko auch auf dem Schirm. �

  • #2

    andi_s_rad (Freitag, 20 September 2024 19:47)

    Schöner Bericht und tolle Bilder! Gute Fahrt weiterhin und schöne Grüße aus Salamanca.
    Andreas

  • #3

    Hubert Rickal (Freitag, 20 September 2024 22:45)

    Hardy ich will ein Stadion sehen.