Endlich ist es soweit: Das Vjosa-Tal im südlichen Albanien wird Naturschutzgebiet. Lange war die einzigartige Naturregion Spekulanten ausgesetzt, die mithilfe von Korruption vor allem Geld verdienen wollten. Auf meiner Albanien-Tour 2019 bin ich durch das Tal geradelt. Hier das Kapitel aus meinem Buch "Onkel Enver, der Fußball und eine Radreise durch Albanien"
ZUM VJOSA-TAL GEHT ES ÜBER EINE HAARSTRÄUBENDE PISTE DURCH DAS EHEMALIGE SPERRGEBIET MIT GRIECHENLAND. DIE VJOSA VERZAUBERT UND STIMMT TRAURIG, DENN SPEKULANTEN WOLLEN DAS NATURPARADIES VERSCHANDELN. PËRMET ÜBERZEUGT MIT SEINER PARTISANENVERGANGENHEIT
Der Regen hat sich verzogen, doch unter dem grau melierten Himmel tobt ein kalter Wind. Ich trage alles, was mein Gepäck hergibt, und hoffe auf wärmere Umgebungstemperaturen im 800 Meter tiefer gelegenen Vjosa-Tal. Die Straße ist einsam und ähnlich kaputt wie gestern. Mehr als eine Stunde braucht es, bis ich Leskovik erreiche. Die Kleinstadt bietet ein Bild des Grauens. Eine triste, regelrecht kaputte Häuseransammlung, in der Hoffnung ein exotisches Gut ist. Überall verfallene Gebäude und Industriebrachen. Die Schule ist gerade zu Ende, und Leskoviks Jugend marschiert nach Hause. Es sind nicht mehr viele. Zu osmanischen Zeiten ein lebhafter Handelsort, verloren viele Bauern 1913 ihr Ackerland, das bei der Grenzziehung Griechenland zugeschlagen wurde. Während des Zweiten Weltkriegs litt Leskovik unter den Partisanenkämpfen und geriet anschließend ins Sperrgebiet. 14 Kilometer sind es bis Griechenland. Heute kommt man noch auf 1.500 Seelen, sind Arbeitsplätze ähnlich rar wie Fröhlichkeit. Selbst der Fußballplatz liegt brach. Niemand mag mehr für Leskovik jubeln. Es ist der traurigste Ort meiner Rundreise.
Die Straße gabelt sich. Die alte SH80 bzw. 65 verläuft entlang der Grenze mit Griechenland. Weil dem Hoxha-Regime das zu heikel war, wurde landeinwärts eine neue Straße in den Fels geschlagen. Ich nehme die „neue“, die sich als einziges Trümmerfeld erweist. Anders gesagt: War gestern Heavy Metal, ist heute Rammstein. Und das auf einer Abfahrt mit 600 Metern Höhenverlust auf 14 Kilometern, die ich auf glattem Asphalt sicher im Geschwindigkeitsrausch genossen hätte. Stattdessen zupfe ich auf dem kaputten Terrain ständig an der Bremse und stehe auf den Pedalen, weil der Schlingerkurs nicht anders zu bewältigen ist. Dabei ist es die wichtigste Durchgangsstraße der Region!
Das Panorama rechtfertigt die Anstrengung. Ein wilder Landstrich, der hinter jeder Ecke ein neues Postkartenidyll bereithält. Mehr als einmal reißt das enge Tal auf und präsentiert ein Bild, durch das schon vor Jahrmillionen Wasser geflossen sein muss. Die schmale Straße, auf der nur ein paar Bauern mit ihren Ziegen unterwegs sind, eine logistische Meisterleistung. Sie ist förmlich aus dem Felsen gekratzt. Dass die Wände in ständiger Bewegung sind, belegen die Felsbrocken auf der Fahrbahn. Neben der kaum gesicherten Piste stürzt der Fels steil hinab. Wer hier verunfallt, braucht ein Bündnis mit den Göttern, um von Rettern gefunden zu werden.
In Çarshova vereinen sich die beiden Straßen wieder. Ein kleines Gasthaus wirbt mit Blick aufs Tal der Vjosa. Ich nehme die Einladung auf einen Makiato an. Die Vjosa ist einer der letzten Wildflüsse Europas. Er bewohnt sein Bett seit Urzeiten und verschiebt es mit jedem Hochwasser aufs Neue. Platz genug hat er, denn die Landschaft ist praktisch unverbaut, und über zig Kilometer stört nirgendwo eine Brücke seinen Lauf. Das Vjosa-Tal ist ein in Europa selten gewordenes Biotop. Geschäftsleute wollen das ändern. Mehrere Staudämme und Wasserkraftwerke sind geplant. Das große Geld soll ins Hinterland fließen und ihm das Schönste rauben, was es zu bieten hat: intakte Natur.
Bei Kalivaç soll einer der Staudämme für ein Wasserkraftwerk entstehen. Ursprünglicher Bauherr war Anfang der 2010er Jahre Francesco Becchetti, ein italienischer Unternehmer aus der Abfall- und Baubranche. Becchetti war ein recht umtriebiger Investor, der in Tirana auch einen TV-Sender betrieb und sich im Fußball engagierte. Allerdings nicht in Albanien. Stattdessen erwarb er im Juli 2014 den Londoner Traditionsklub Leyton Orient, den er binnen 30 Monaten von einem Zweitligaaufstiegskandidaten in einen Absteiger aus der Football League verwandelte, der man 112 Jahre ohne Unterbrechung angehört hatte. Die Orient-Fans der Südlondoner jagten Becchetti daraufhin zum Teufel.
Auch sein albanisches Kraftwerksprojekt ging schief. 2015 verschwand Becchetti aus Albanien und wurde in London festgenommen. Ein Haftbefehl sprach von organisierter Geldwäsche in Höhe von 39 Millionen Euro im Zusammenhang mit dem geplanten Wasserkraftwerk sowie dem TV-Sender, der 2015 pleitegegangen war. Becchetti widersprach und behauptete, die Anklage sei politisch motiviert und vom neu gewählten sozialistischen Premierminister Edi Rama forciert, der im Vjosa-Tal eigene Interessen verfolge. Tiranas Auslieferungsgesuch wurde von London zurückgewiesen, weil, wie es hieß, „die albanischen Behörden wissentlich falsche Angaben gemacht“ hätten. Die bereits aufgenommenen Bauarbeiten in Kalivaç ruhen seitdem. Zwar erhielt das türkisch-albanische Baukonsortium „Ayen-Alb“ im Juni 2018 die Betriebskonzession, nicht aber die Genehmigung zum Weiterbau.
Das liegt nicht zuletzt daran, dass das Projekt zwischenzeitlich internationale Aufmerksamkeit erfahren hatte und zu einem Beispiel für das ungleiche Ringen zwischen Umweltschutz und rücksichtsloser Ausbeutung geworden war. Selbst Schauspieler Leonardo DiCaprio engagierte sich, und Albanien, die einst rigide abgeschottete Insel des Stalinismus, wurde zum Abbild des gefräßigen Wachstums eines Kapitalismus, der vor nichts zurückschreckt. Die Argumente der Gegner sind berechtigt. Der Lebensraum vieler seltener Flussfische würde zerstört, zahlreiche auf der Liste der geschützten Arten stehende Tiere und Pflanzen sind gefährdet. Menschen müssten umgesiedelt, uralte Siedlungen aufgegeben werden. Zudem steht das Projekt rechtlich auf tönernen Füßen, denn wie genau das Planungsgutachten zustande kam, ist unklar.
Kritiker sagen, es sei einfach von einem anderen Projekt kopiert worden, und niemand habe sich die Verhältnisse vor Ort angeschaut. Ein Verwaltungsgericht in Tirana stufte die vorgelegte Umweltverträglichkeitsprüfung jedenfalls als „äußerst mangelhaft“ ein und stoppte das Bauvorhaben. Die Hoffnungen ruhen auf dem angestrebten EU-Beitritt Albaniens. Wäre das Land Mitglied, würde das Vjosa-Tal den Status einer „Natura2000-Fläche“ erhalten und wäre vor Eingriffen geschützt. Im Sommer 2020 verkündete Ministerpräsident Rama immerhin, dass er die Einrichtung eines Nationalparks nun doch befürworte.
Tiefe Friedfertigkeit geht von dem breiten Talbecken aus. Die Vjosa räkelt sich in ihrem Bett, verzweigt sich, dehnt sich aus, bildet Inseln und Seitenarme, stürzt in kleinen Wasserfällen hinab, leuchtet in intensivem Türkisblau und tut einfach das, was ein urzeitlicher Fluss so tut. Die schmale Straße klammert sich in gebührendem Abstand an die Hänge rechts des Stroms und folgt in welligem Auf und Ab der Topografie. Im Frühjahr ist auf den hohen Gipfeln oft bis Anfang Mai noch Schnee zu sehen. Jetzt, im Spätsommer, stehen die Olivenbäume in voller Pracht, kommen Schafherden ihrer Aufgabe als Grasmäher auf vier Beinen nach.
Radreiseflow setzt ein. Die Straßenoberfläche ist in feinstem Zustand, es geht leicht bergab und aus Süden schiebt ein angenehmer Rückenwind. Die Kilometer purzeln nur so aus dem Bordcomputer, während einsame Örtchen an mir vorbeifliegen. Vor jeder Häuseransammlung steht eine in die Jahre gekommene Bushaltestelle. Menschen sehe ich wenige, auch Autos sind kaum unterwegs. An einem Hang auf der anderen Flussseite zieht sich in Serpentinen steil eine Piste hinauf. Ein schwer beladener Lastwagen müht sich an ihm ab. Der Kampf gegen die Schwerkraft überfordert das Ungetüm fast.
Mit 6.000 Einwohnern ist Përmet die größte Stadt im Vjosa-Tal. Sie thront hochwassergeschützt auf einer Felsplattform und ist über die einzige größere Brücke im gesamten Tal erreichbar. Bevor ich hinüberfahre, stoppe ich beim Fußballstadion „Durim Qypi“, das etwas außerhalb liegt. Mich erwartet ein weiteres Denkmal der untergegangenen albanischen Fußballkultur. Der KS 24. Maji Përmet gehörte zwar nie zu den großen Klubs und kickte meistens nur in der zweiten Liga, Fußball war aber dennoch lange Zeit König in der Kleinstadt.
Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs trug der 1930 gegründete Verein den Namen Leka i Madh – „Alexander der Große“. Griechenlands kultureller Einfluss in Südalbanien ist groß. Anschließend entstand der KS 24. Maji – nach dem 24. Mai 1944, der Përmets Geschichte tief prägte. Es war der Tag, an dem der „Erste antifaschistische Kongress der nationalen Befreiung“ begann. Dass Përmet als Gastgeber fungierte, war kein Zufall, denn die Stadt war Hochburg des antifaschistischen Widerstandes und befand sich seit Sommer 1943 in den Händen der Partisanen. Nun versammelten sich dort 186 Kämpfer und kommunistische Vordenker, um über die Zukunft Albaniens zu beraten. Am Ende des „Kongresses von Përmet“ wurde ein „antifaschistisches Befreiungskomitee“ eingesetzt, das unter Führung von Enver Hoxha stand. Bis heute gilt die Stadt als kommunistische Hochburg.
Die Architektur spiegelt das wider. Përmet ist ein von Parkanlagen und ausladenden Plätzen geprägtes Örtchen mit entspanntem Lebenstempo und einem Charme, der auf der Leitidee vom „Neuen Menschen“ beruht. Dem Ideal einer solidarischen Gesellschaft, in der sich alle dem großen Ganzen zugehörig und verpflichtet fühlen, das auch nicht infrage gestellt wird. Notfalls mit Gewalt, denn in der praktischen Umsetzung des Realsozialismus gehörten dazu eine Erziehungsdiktatur, die Zweifel nicht duldete, Zwangskollektivierung sowie die lückenlose Überwachung mitsamt Arbeitslagern oder gar Exekutionen für die Abtrünnigen. 2004 sagte Hoxha-Witwe Nexhmije im Interview mit dem „Spiegel“ den entlarvenden Satz: „Der ‚neue Mensch‘, so wie wir ihn formen wollten, dachte leider nicht daran, auf seine Eigentumsrechte und andere Gewohnheiten zu verzichten.“
Am ausladenden Aufmarschplatz „Sheshi Abdyl Frashëri“ erinnert ein riesiges Denkmal an Përmets Bedeutung in der jüngeren albanischen Geschichte. „Partizani Çlirimtar“ genannt – Der befreiende Partisan – wurde die Plastik im sozialistischen Realismus 1964 von Odhise Paskali geschaffen, einem der prominentesten Künstler und Bildhauer Albaniens. Er stammte aus dem im Vjosa-Tal gelegenen Dörfchen Kozhan und hat im ganzen Land sein Werk hinterlassen. Eine 1965 von ihm geschaffene Büste Enver Hoxhas gilt als die gelungenste und stand bis 1991 in vielen albanischen Haushalten. Heute ist sie überall auf Flohmärkten und in Nostalgieläden zu bekommen. Nicht weit vom Stadtzentrum steht ein weiteres seiner Werke. Es ist Naim Frashëri gewidmet, der gemeinsam mit seinem Bruder Abdyl, Namensgeber des zentralen Aufmarschplatzes, zu den wichtigsten Vordenkern der Unabhängigkeitsbewegung gehörte. Auch die Frashëri-Brüder stammen aus dem Vjosa-Tal. Im heute so umkämpften Naturparadies kumuliert zugleich Albaniens jüngere Nationalgeschichte.
In einem Straßencafé wirft eine betriebsame Matrone ihre Fänge nach zahlungskräftigen Touristen aus. Ich gehe ihr ins Netz und lasse den Alltag für eine Kaffeelänge vorbeiziehen. Überraschend viele junge Menschen sind unterwegs. Përmet gilt als Stadt mit hoher Lebensqualität. Fröhlich schwatzend scheinen sie mit sich im Reinen zu sein. Auch hier ist die Arbeitslosigkeit hoch, doch man vertraut auf seine Rolle als regionales Oberzentrum. Alles ist grün; Përmet trägt nicht umsonst den Beinamen „Stadt der Rosen“. Touristen werden einerseits durch die Wandermöglichkeiten in den umliegenden Bergen angelockt, andererseits durch den „Guri i Përmetit“, den Felsen von Përmet. Ein 84 Meter hoher, würfelförmiger Felsklotz am nördlichen Stadtrand, der über eine abenteuerliche Steintreppe erklommen wird. Auf seiner Plattform finden sich Überreste einer osmanischen Befestigung. Die Aussicht auf Përmet und das Vjosa-Tal sind spektakulär.
Am Abend schenkt mir Përmet ein hinreißendes Schauspiel albanischer Realität. Ich sitze in einem Straßenrestaurant und werde eingenebelt von Abgasen, als fünf Männer auftauchen und sich um einen luxuriösen Mercedes jüngeren Datums verteilen. Zwei prüfen das Fahrzeug auf Herz und Nieren, die anderen beobachten breitbeinig und mit verschränkten Armen das Geschehen. Der Wagen soll offenbar verkauft werden. Währenddessen parkt der Wagen, mit dem die fünf Männer gekommen sind, mit laufendem Motor auf der Straße und blockiert die Durchfahrt. Geduldig rangieren die Gestauten in Millimeterarbeit an ihm vorbei. Nach einer Weile scheinen alle Fragen geklärt zu sein, steigt das kaufinteressierte Duo in das offerierte Luxusmobil und fährt los. Erst jetzt sehe ich, dass der Mercedes ein niederländisches Kennzeichen trägt, und ertappe mich bei der Frage, ob er wohl freiwillig nach Përmet gefunden hat
Hardy Grüne
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