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Tour 'd'OSTalgie Roßlau/Aue

Als Helmut Kohl blühende Landschaften versprach, hatte er Roßlau vermutlich nicht im Sinn. Die Doppelstadt mit Dessau hat zweifelsohne Potenzial, aber ihr fehlt so ein bisschen der Kick, um es zu aktivieren.

Okay, Kik ist da, und all die anderen Billigmärkte auch. Der Espresso beim Italiener kostet 2,40 und schmeckt nach abgestandenem Filterkaffee. Das teilweise hübsch restaurierte Zentrum ist menschenleer, und an den Bürgersteigen verfallen erstaunlich viele Häuserzeilen, die an die kalte Altstadtsanierung à la DDR erinnern: nämlich den Wohnbestand einfach so lange leerstehen zu lassen, bis er verrottet. Wie lange war die Wende noch gleich her?

Die Gegenwart wiederum kommt nicht immer schwungvoll daher. Am Supermarkt warnt ein Schild, dass sowohl während als auch außerhalb der Öffnungszeiten kein Alkohol konsumiert werden darf. Lese ich da eine Unsitte der Einheimischen heraus, die es einzuschränken gilt?

Dass in eben diesem Roßlau über drei Tage einer Musik und ihren Anhängern gehuldigt wurde, deren Wurzeln in Jamaika liegen und die vor allem von Black People auf der ganzen Welt als Rocksteady, Reggae oder Ska verbreitet wurde, ist unter diesen Umständen durchaus bemerkenswert. Es war bisweilen wie die Begegnung zweier Welten, und ich hätte gerne erfahren, wie das "This-is-Ska"-Festival unter den Einheimischen wohl wirklich diskutiert wird. Mir gegenüber kamen nur positive Meldungen, und tatsächlich beschert das Festival der Stadt ja alljährlich einen ungewöhnlichen Menschenauflauf, der auch ordentlich Geld im lokalen Handel lässt. Am Samstagnachmittag fuhr dann sogar die Feuerwehr auf und spendete eine Wasserfontaine auf die in der Hitze Tanzenden - sehr zu deren Jubel. Immer schön, wenn sich unterschiedliche Lebensentwürfe an ihren Schnittstellen treffen!

Die Landschaft um Roßlau ist Bombe. Herrlich verkehrsentspannte Radwege durch Wälder oder an Flüssen entlang, mitten durch grüne Auen. Überall stehen alte Adels- und Fürstenhäuser, finanziert vor Jahrhunderten von den Ablasszahlungen der Untertanen und heute gefeiert vom Tourismus-Wanderzirkus. Wörlitz ist so ein Ort. Ein riesiger Park, eine herrschaftliche Anlage, allerlei Gesindehäuser drumherum und zeitgemäßes Kopfsteinpflaster auf den Straßen. Die Tasse Kaffee kostet 5,60 Euro, aber hey, wie geil historisch ist das hier alles! So schön!

Was fasziniert uns eigentlich an den Relikten uralter Ausbeutungsstrukturen, die ohne Gesinde nicht möglich gewesen wären? Sind Macht, Reichtum und skrupellose Führungsstärke möglicherweise Eigenschaften, von denen wir uns leicht verführen lassen? In der Vergangenheit wie der Gegenwart?

Das bringt mich nach Aue, dem Zielort meiner Bahnreise von Roßlau und der Startpunkt der gegenwärtigen vier Etappen der Tour d'OSTalgie. Am Sonntagnachmittag bei 37 Grad durch Aue zu radeln ist kein Zuckerschlecken. Dabei war ich ohne Gepäck unterwegs, denn mein Zelt hatte ich gleich nach der Ankunft in Bad Schlema auf einem herrlich gelegenem Campingplatz aufgebaut. Im Erzgebirge geht es hoch und runter. Und das meine ich wortwörtlich. Ich wohne ja im Harzvorland, mir sind Anstiege also durchaus vertraut. Hier gibt es nur Anstiege, die man entweder hochkeucht oder runterrast. Das macht nicht zwingend Spaß, denn der berauschende Flow des Radfahrens kann sich dabei nicht einstellen.

Wer das mal ausprobieren will, dem empfehle ich die Schneeberger Straße zwischen Aue und Bad Schlema. Boy oh boy. Endlos geht es den Berg hoch. Nicht beißend, aber so unfreundlich, dass es zehrt. Und kaum ist man oben, geht es auf der anderen Seite wieder runter.

Aber ich wollte ja von Vergangenheit und Gegenwart berichten. In Aue ist eine Partei namens "III. Weg" stickermäßig ziemlich aktiv. Das klingt ein bisschen nach "III. Weltkrieg", und das Symbol erinnert auch durchaus an Zeiten, als Jungs noch "zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl" und irgendwann dann "mausetot" waren. Führer befiel, wir folgen. Der "III. Weg" hat eine einfache Lösung für alle Probleme: "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus". In Aue hätte das am heutigen Sonntagnachmittag zu völligem Stillstand des Lebens geführt, denn es gab exakt zwei geöffnete Verköstigungsbetriebe: eine türkisch geführte Kebab-Bude und ein arabisches Café. Ohne die beiden hätte ich also ein echtes Versorgungsproblem gehabt. Insofern: ob ein "Deutschland den Deutschen" wirklich funktioniert, finden wir möglicherweise am Einfachsten raus, wenn Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland mal für drei Monate die Arbeit niederlegen. Ich wäre gespannt, wie wir dann über "Ausländer raus" denken.

Im (arabischen) Café saß ein Einheimischer beim Weizenbier und kommentierte mein "hier ist ja nicht viel los" mit "Aue ist ein große Kreisstadt". Ich entdeckte seinen Sarkasmus nicht sofort, also legte er nach und zählte ruckzuck allerlei Dinge auf, die im Aue nicht (mehr) funktionieren. Und welche Betriebe demnächst die Pforten schließen. Und dass der Bürgermeister "aus dem Westen kommt, nichts tut und trotzdem immer wiedergewählt wird".

"Hier geht alles den Bach runter. Das Stadtfest gibt nicht mehr, der Weihnachtsmarkt läuft nur noch über drei Tage. Cafés machen nicht mehr auf, weil angeblich keiner kommt, Restaurants schließen wegen der Bringdienste. Aber wenn ich nichts anbiete, passiert auch nichts!" Ehrlich, da war zu DDR-Zeiten mehr los".

Meine Frage, was denn hier los sei, wenn der FC Erzgebirge am Sonntagnachmittag einen Gegner mit vielen Fans begrüßen würde und wo die dann ihr Bier tränken quittierte er mit einem Lachen. "Fußball und Handball sind doch auch vorbei. Die Handballer sind ja jetzt auch in die 3. Liga abgestiegen. Wer kommt denn schon noch nach Aue, wenn hier alles zu ist? Und welcher Sponsor gibt Geld, wenn es an der Perspektive fehlt? Das wird nichts mehr".

Mich machte sein Fluch-Kanon ratlos. Ich konnte ihn nicht ernsthaft bewerten, doch dass Aue an diesem sommerherrlichen Sonntagnachmittag die vielleicht lebloseste Stadt war, in der ich in Deutschland jemals an einem Sonntagnachmittag gewesen bin, war nicht von der Hand zu weisen.

Dann fiel ihm ein, dass es vielleicht doch einen Laden gäbe, in denen ich zumindest Getränke bekommen könnte. "Der Automatenladen!" Gemeinsam marschierten wir zum Busbahnhof, wo in einem Geschäft ohne Personal vier Automaten standen, die zwischen Mineralwasser, Coca Cola und anderen Softdrinks, Chipstüten sowie Vapes auch ein "Erotik-Paket" anboten. Was da drin war, war leider nicht zu erkennen, aber ich war ja eh auf der Suche nach Getränken, und die in den Automaten waren autobahnraststättenteuer.

Ein ereignisreicher Start zur Tour d'OSTalgie also, der wenig von dem brachte, was ich erwartet hatte und viel von dem, was ich mir für die Tour wünsche: Überraschendes, Unerwartetes und vor allem die eigenen Urteile durcheinanderbringendes.

So kann die Tour gerne weitergehen!

P.S.: Aue ist Partnerstadt von Guingamp. War schon besonders, den Namen am Ortseingang zu lesen. Die Dame, die das Foto von mir schoss, war noch nie da und sprach so eigentümlich, dass ich sie fragte, ob sie Deutsch spreche. Daraufhin guckte sie mich erstaunt an und meinte "Natürlich!". An meinem Sächsisch muss ich wohl noch arbeiten...